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  • Ich poste, also erinnere ich mich

    Die App Bereal ist vielleicht manchmal nicht so real, wie sie sein möchte. Doch für Kolumnistin Lene ist sie zu einem wichtigen Tool geworden, um den Bezug zur Realität wieder zurückzugewinnen.

    Erinnerungen sind alles, was wir haben. Wir erinnern uns an Momente, Menschen, Meilensteine und schließen aus all dem, was wir erlebt haben, wer wir sind. Vielleicht erzählen wir uns anhand unserer Erinnerungen auch manchmal eher eine Geschichte davon, wer wir sein wollen. Ja, wir bauen unser Selbstkonzept aus dem, worauf wir in unserem Leben zurückblicken. Und manchmal beschönigen wir dabei – ganz automatisch. Das ist gut, das ist wichtig.  

    Unser autobiographisches Gedächtnis ist nicht nur da, um uns selbst oder unseren Enkelkindern erzählen zu können, wer wir einmal waren und wie wir die Welt erlebt haben. Wir lernen aus Erfahrungen, lernen, wenn wir uns erinnern. So werden wir im Laufe unseres Lebens besser darin, Probleme zu lösen. Unser Gedächtnis hilft uns, Probleme zu definieren und Lösungsalternativen, die wir vielleicht schon einmal versucht haben, durchzugehen. Wir fragen die „Datenbank“ in unserem Gedächtnis ab, bis wir zu einer guten Lösung gefunden haben. Klar, wir lernen aus unseren Erinnerungen.  

    Unsere Vergangenheit beeinflusst auch die Vorstellung unserer Zukunft. Und schöne Erinnerungen wirken sich positiv auf Zukunftserwartungen aus. Wir brauchen Ideen, Pläne, Motivation und Zukunftsperspektiven – denn was könnte sinnstiftender sein? 

    Bereal von Lene Foto: privat

    In meinem Leben gibt es manchmal Phasen, in denen ich nur wenig positive Zukunftserwartungen habe. Das sind Phasen gefüllt von Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit und Antriebslosigkeit. Phasen, in denen ich kaum schlafen kann, kaum Appetit habe, in denen ich mich überfordert und nur schwer im Stande fühle, irgendetwas zu tun. Affektive Störungen zählen neben Angststörungen und Substanzgebrauchsstörungen zu den häufigsten psychischen Störungen in Deutschland. So eine depressive Episode hat verschiedene Ursachen – „multifaktoriell bedingt“ heißt das in der Psychologie. Dass viele verschiedene Faktoren zusammenwirken, gilt im Übrigen für jede psychische Störung. Doch es lassen sich bestimmte Vulnerabilitätsfaktoren ausmachen, also Faktoren, die das Risiko für eine psychische Störung erhöhen. Und bei der Depression ist einer dieser Vulnerabilitätsfaktoren eine Störung des autobiographischen Gedächtnisses. „Unspezifischer Erinnerungsstil“ nennt sich das. Studien zeigen, dass Patient*innen mit Depressionen weniger spezifische Erinnerungen wiedergeben können als nicht depressive Menschen. Das gilt für diese Patient*innen nicht nur in den depressiven Episoden, sondern auch in nicht-depressiven Phasen. Durch diesen unspezifischen Erinnerungsstil erhöht sich auch das Risiko des Wiederauftretens von depressiven Episoden. 

    „Störung des autobiographischen Gedächtnisses“ – meinem Kopf gelingt es also nicht gut, sich zu erinnern. Ich habe weniger Zugriff auf das, was ich erlebt habe. Und ja, es stimmt, viele Erinnerungen fühlen sich an, als wären sie in einem trüben Nebel verfangen. Ich erinnere mich vor allem an Gefühle. Und gerade in diesen unguten Momenten erinnere ich die Traurigkeit. Dann fühlt es sich an, als sei sie meine einzige Realität. Da fallen Problemlösung oder hoffnungsvolle Zukunftserwartungen nicht allzu leicht.  

    Lässt sich etwas dagegen tun? Ja, es muss doch einen Umgang damit geben. Seit Beginn dieses Jahres versuche ich, dem Erinnerungsnebel entgegenzuwirken. Es war mein Neujahrsvorsatz für 2024. Noch bevor mir das Konzept des unspezifischen Erinnerungsstils ein Begriff war, beschloss ich, mehr Momente festzuhalten. Vielleicht hilft das ja, um die schönen Dinge im Blick behalten zu können, dachte ich. Wie ließe sich das umsetzen? Vielleicht wieder mehr Tagebuch schreiben? Doch Schreiben ist meistens vor allem tief und nachdenklich. Selten schreibe ich nur auf, wie gut es mir geht und wie leicht und unbeschwert ich mich fühle. Sich das anzugewöhnen, ginge ganz bestimmt, braucht aber Umgewöhnung und eine neue Routine. Fotos machen? Das schien mir die Lösung! Doch ich war noch nie eine der Personen, die alle Momente mit der Handykamera festgehalten hat, um danach ein Reel daraus zu schneiden. Ich bin auch nicht besonders talentiert darin, unauffällig schöne Momente mit Freund*innen auf ästhetischen Fotos festzuhalten. Zumal meine Handykamera wirklich schrecklich ist. Ehrlicherweise vergesse ich, Fotos zu machen. Aber grundsätzlich schien mir das Fotografieren ein guter Ansatz. Meine Lösung: Bereal. 

    Bereal: Jeden Tag bekomme ich eine Nachricht auf mein Handy, die mich erinnert, heute einen guten Moment festzuhalten. Ich kann diesen Moment mit meinen Freund*innen teilen und vor allem – das ist der beste Teil – wird alles in meinen Memories festgehalten. Es braucht keine neue Routine. Die Hürde, „Wollen wir ein Bereal machen?“ zu fragen, ist wahnsinnig niedrig. Die Ästhetik der Fotos spielt keine große Rolle. Die Qualität meiner Handykamera ist mir hier ziemlich gleich. Es funktioniert – Bereal ist in den vergangenen sieben Monaten zu meiner Gedächtnisstütze für schöne Momente geworden. Und rückt so in unguten Augenblicken mein Selbstkonzept wieder gerade. 

    Öffne ich nun meine Memories, dann sehe ich, wie viele schöne Momente mit Sonne, Kaffee und Menschen, die ich sehr liebhabe, ich in der vergangenen Zeit erlebt habe. Ich bekomme meinen Bezug zur Realität zurück. Viele Momente sind nicht voll Trauer, Alleinsein und Müdigkeit. Ganz viele sind gut. Oder nichts Besonderes. Aber eben auch nicht dieser neblige Zustand. Bereal fungiert als eine Art Realitätsabgleich. „It’s time to bereal“ – und ich erinnere mich wieder. 

     

    Titel: erstellt mit canva

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