• Menü
  • Kultur
  • Von Heilung und Entmündigung

    Lea de Gregorio ist verrückt geworden. Ihr Buch erzählt von dieser Verrückung und benennt Ausgrenzung und Entmündigung von Menschen mit psychischer Störung. Eine Geschichte der Selbstermächtigung. 

    „Unter Verrückten sagt man Du“ ist eine Psychiatriekritik, in der die Journalistin Lea De Gregorio von ihrer Zeit in der psychiatrischen Klinik erzählt – und sich nach Erfahrungen von Angst, Entmündigung und Ohnmacht, die sie dort hatte, auf die Suche nach Antworten macht. Das 2024 im Suhrkamp Verlag erschiene Buch ist genau das: eine Suche nach Antworten. Wie ist damit umzugehen, wenn die eigene Wahrnehmung nicht mehr zählt? Wenn falsch ist, was man denkt und spürt, wenn es anders und man selbst vermeintlich nicht mehr gesellschaftsfähig ist? Die wohl wichtigste Frage ist hier: Wer bestimmt, was „normal“ ist?  

    Viele Symptome von allen möglichen psychischen Störungen hat wahrscheinlich jeder Mensch schon erlebt. Angst, Traurigkeit, Grübeln, zwanghaftes Verhalten, Glauben an telepathische Fähigkeiten, eine ungute Beziehung zum eigenen Körper – all das findet sich bei gesunden Menschen, aber in besonderer Intensität und mit verstärktem Leidensdruck auch bei psychischen Störungen wieder. Erleben und Verhalten sind nicht in die Schubladen „normal“ und „irre“ einzuteilen. Ja, es braucht Kriterien, ab wann Hilfe benötigt wird und beansprucht werden kann. Doch wie kann es sein, dass Hilfebenötigen zu Ausgrenzung und Entmündigung wird? Jede Person kann krank werden, kann eine psychische Störung erleiden. Was heißt es für eine Gesellschaft, wenn sie das negiert und stattdessen die Stempel „verrückt“ und „leider nicht mehr leistungsfähig“ oder gar „gefährlich“ vergibt? Und finden sich der gesellschaftliche Fokus auf das Individuum und seine Leistungsfähigkeit im Umgang mit psychischen Störungen wieder? 

    De Gregorio setzt sich mit all diesen Fragen auseinander. Sie schreibt: „Dies ist auch die Geschichte einer Selbstermächtigung.“ Die studierte Philosophin, Kulturwissenschaftlerin und Ethnologin skizziert, was Wahnsinn, Manie und Verrückung historisch in Philosophie, Kunst und Literatur bedeutet haben. Sie betrachtet auch, wie der Umgang mit psychisch Erkrankten im Nationalsozialismus die Realität in den deutschen psychiatrischen Einrichtungen noch heute prägt.   

    Die Autorin dieses Textes liest ein Buch

    “Unter Verrückten sagt man Du” ist eine Suche nach Antworten. Foto: privat

    Dieses Buch macht aufmerksam. Plötzlich fällt auf, wie in den Nachrichten kaum hinterfragt über mögliche Diagnosen potenzieller Straftäter*innen spekuliert wird. Menschen haben Angst vor Verrückten. In Filmen Krimis, Podcasts wird immer wieder besprochen, wie sie vermeintlich eine Gefahr für ihr Umfeld darstellen. „Unter Verrückten sagt man du“ benennt die strukturelle Ausgrenzung. Denn auch wenn es Fortschritte gibt und bestimmte Störungen wie Depressionen oder Panikattacken besser als noch vor einigen Jahren öffentlich besprochen werden können – De Gregorio zeigt, wie Stigmatisierungen weiterhin aufrechterhalten werden. Nun gibt es Sprache dafür, wie Menschen mit Diagnose delegitimiert werden, ihnen jede Leistungsfähigkeit und Möglichkeit zur Teilhabe erst einmal abgesprochen werden. Diskriminierende Strukturen sind miteinander verschränkt. Diskriminierungserfahrungen durch beispielsweise Rassismus oder Klassismus gelten als bedeutende Risikofaktoren für psychische Erkrankungen.  Sprache zu besitzen ist der erste Schritt, um diese Strukturen verändern zu können. De Gregorio findet diese Sprache. 

    Immer wieder stellt die Autorin die Frage nach der „Norm“. Die würden die Professionellen festlegen, wie De Gregorio Psychiater*innen und Psycholog*innen nennt. Sie benennt das in Kliniken bestehende Machtverhältnis und warnt vor den Konsequenzen, die mit der Hierarchie zwischen Behandelnden und Patient*innen besteht. Dieses Machtgefälle bedeutet, dass das Recht auf Selbstbestimmung der Patient*innen stark eingeschränkt wird. Auch De Gregorio erlebte eine Einweisung in die Klinik gegen ihren Willen. Zum Schutz ihrer Selbst? Zum Schutz ihres Umfeldes? Reicht das Argument, man müsse die „nicht Normalen“ vor sich selbst schützen gegen das Risiko des Machtmissbrauchs in der Psychiatrie aus? Die Autorin beantwortet diese Frage nicht abschließend. Doch sie zeigt auf, was eine Zwangseinweisung wirklich bedeutet und wie sich diese Ohnmacht für sie anfühlte.  

    Doch „Unter Verrückten sagt man du“ beschäftigt sich nicht nur mit dem Machtgefüge in psychiatrischen Kliniken. De Gregorio setzt sich auch mit der psychopathologischen Forschung auseinander. Die Psychologie hat allem Philosophischen den Rücken gekehrt und vergisst dabei viel von Erleben und Verhalten. Bewusstsein ist nur bis zu einem sehr begrenzten Grad messbar. Das möchte die Psychologie vielleicht manchmal nicht wahrhaben. Die studierte Philosophin benennt und kritisiert das und schildert dabei auch von den philosophischen Charakter ihrer eigenen manischen Episoden.   

    De Gregorio kritisiert diese zu biologistische Herangehensweise an psychische Störungen. Sie schreibt ungläubig über Zwillings- und Adoptionsstudien und Genstudien. Solche Untersuchungen klingen sicher erst einmal seltsam. Hier übersieht die Autorin aber das Potenzial, das in dieser Forschung liegen kann. Denn solche Studien liefern durchaus wichtige Informationen zur Erblichkeit von psychischen Störungen. Nämlich, dass ein psychisch erkranktes Familienmitglied das Risiko erhöht, selbst an irgendeiner psychischen Störung zu erkranken. Das ist für Prävention und Aufklärung wichtig. Ein guter Umgang mit diesen Erkenntnissen kann womöglich sogar für Entstigmatisierung von Psychotherapie sorgen. Das setzt aber Entstigmatisierung voraus. Zu der „Unter Verrückten sagt man du“ einen wichtigen Beitrag liefert. 

    Auch der Umgang mit medikamentöser Behandlung bei psychischen Störungen wird von De Gregorio beleuchtet und kritisiert. Medikamente können der Heilung zuträglich und eine wichtige Unterstützung für Menschen mit psychischer Störung sein. Auch diese Perspektive zeigt De Gregorio. Doch Medikamente sollten nicht immer die erste Wahl sein. Psychotherapie statt medikamentöser Behandlung zeigt bei Störungsbildern wie Angst- oder Zwangsstörungen wesentlich bessere Heilungschancen. Dass dennoch häufig zuerst zu Medikamenten gegriffen wird, liegt vor allem an fehlender psychotherapeutischer Versorgung. Das kann folgenschwer sein. Die Autorin schildert hier ihre eigenen Erfahrungen von Gefühllosigkeit, unerträglicher Erschöpfung und dem Gefühl, nicht ausreichend über Nebenwirkungen aufgeklärt zu werden. 

    De Gregorio bleibt nicht allein bei ihren eigenen Erlebnissen. „Unter Verrückten sagt man du“ zeigt die Perspektiven von so vielen Verrückten. Der Autorin gelingt es immer wieder, ihre eigenen Erlebnisse mit Perspektiven von anderen Betroffenen, philosophischen Strömungen und kritischen Psycholog*innen zu verknüpfen. Sie berichtet von Menschen, die ihr von den positiven Erlebnissen und Erkenntnissen erzählen, die sie in ihren verrückten Phasen erlebten. „Unter Verrückten sagt man du“ ist gefüllt von Gesprächen mit Menschen, die in Vereinen und Initiativen organisieren, sich gegen Entmündigung und für den so notwendigen Abbau von Stigmata engagieren. De Gregorio schreibt über sie, Ihre Arbeit, die für Gleichberechtigung und Achtung der Menschenwürde essenziell ist. Die Autorin verschafft sich selbst und so vielen anderen Betroffenen Gehör. Ihr Buch erzählt nicht nur ihre eigene, sondern so viele Geschichten der Selbstermächtigung.  

     

    Grafik: Sara Wolkers

    Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.

    Verwandte Artikel

    Der schwarze Hund…

    …verfolgt Winston Churchill und Charlie Chaplin. Michael Köhlmeiers „Zwei Herren am Strand“ beschreibt ihre Freundschaft und was sie eint: der Kampf gegen Depressionen und Adolf Hitler.

    Kultur | 2. September 2023

    „Zusammen ergeben wir ein Muster“

    In „Das achte Leben“ erzählt Autorin Haratischwili von acht Leben, sechs Generationen, einem Jahrhundert. Ein Abbild Georgiens, das den Hoffnungen und Ängsten in Zeiten des Umbruchs nachspürt.

    Kultur | 18. November 2023