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  • Endzeitästhetik und Baggerseeromantik

    1000 Tonnen Stahl, 30 Grad, 26 Bands und zwei luhze-Redakteure. Wir waren einen Tag lang auf dem Full Force Festival unterwegs und erzählen, was ihr verpasst habt.

    Gräfenheinichen, ein Örtchen in der anhaltinischen Steppe, hat seit ein paar Monaten zweifelhaften Ruhm erlangt, nachdem „Der Anzeigenhauptmeister“ aus dem Städtchen gespawnt ist und Verkehrsteilnehmer in ganz Deutschland terrorisiert hat. Doch abseits von verhaltensauffälligen Jugendlichen mit zu viel Tagesfreizeit liegt gleich neben dem Ort eine Halbinsel, die unter Metalheads als „the most metal place on earth“ bezeichnet wird – und das nicht zu Unrecht. Neben dem Fakt, dass dort fünf mächtige Tagebaubagger ihre Altersexistenz fristen, lädt das Full Force Festival jedes Jahr Metal-, Hardcore-, Punk- und inzwischen auch Rap-Fans aus der ganzen Welt ein, um sich zwischen Endzeit-Ästhetik und Baggerseeromantik in Moshpits heftig zu fetzen und im Anschluss die Spotify-Playlisten um einige Banger zu erweitern. 

    Noch nicht mal auf den Campingplatz richtig eingerückt, werden wir prompt von einem Esten mit drei Brillengläsern angequatscht und gefragt, ob wir Gras für ihn haben. Wir verneinen und es kommt zum Geschäftlichen – er möchte uns die Platte seiner Deathrock Band andrehen. Natürlich sind wir im weitesten Sinne Musikjournalisten, doch irgendwas auf einem Festival zu kaufen, das inzwischen komplett bargeldfrei abläuft, ist definitiv kein Match. Stichwort bargeldfrei. Egal ob du dir ein Normie-EMP-Shirt kaufen willst oder Knoblauchbrot, dein Armbändchen regelt. Das Aufladen geht ab 40 Euro los und dank der gewohnten Festivalpreise kommst du damit etwa zwei Mahlzeiten und drei Getränke weit. Der Weg vom Campingground hin zum Field beträgt einen guten Kilometer Fußmarsch und dabei lässt sich gut eine soziologische Bauchgefühlstudie konzipieren. Neben dem nahezu allgegenwärtigen Geruch von Candy-Vapes fällt auf, dass der Altersdurchschnitt inzwischen bei plusminus 30 angekommen ist. Man merkt, dass die Szene langsam altert und es an breit aufgestelltem Nachwuchs fehlt. Auch das Line-up setzt allergrößtenteils auf lange etablierte Szenegrößen. Newcomer Bands wie etwa Blackgold, Hanabie. oder Kanonenfieber sind zwar am Start, doch die sind auch in Subgenres einzusortieren, die eher Leute ab 25 ansprechen. So richtige neue Hypebands, die auch im Teenagerspektrum steil gehen, fehlen weitgehend. 

    Eine Gruppe von Menschen spielt mit einen Wasserball

    Gute Laune in der Crowd

    Auf dem Field angekommen fällt neben den vielen und kühlen, die Hand der Festivalgänger angenehm betäubenden 1-Liter Erdbeerbowle-Kannen direkt wieder die super Orga des Full Force auf. Die Wege sind breit angelegt, alles ist sauber und barrierefrei, es gibt kostenloses Trinkwasser und die teils fest in die Landschaft gebauten WC-Anlagen sind ebenfalls in sehr gutem Zustand. Wir bewegen uns straight zur Medusa-Stage, welche direkt am Strand für die nächste Stunde The Butcher Sisters beherbergen wird. Die Rap-Metal-Band aus Mannheim, die komplett in Adidas gekleidet ist und mutmaßlich von Adidas Geld dafür bekommt, dass sie es zukünftig unterlässt, Adidas zu tragen, hat erwartungsgemäß einen familienkompatiblen und hochintellektuellen Kulturbeitrag über die Themen Alkohol, Bauchtaschen und die Liebe zum Benz abgeliefert. Höhepunkt war das Bühnen-Battle zwischen einem weiblichen und männlichen Fan, die sich beide Sven nannten, darüber, wer schneller ein Dosenbier exen konnte, welches vorher von zwei Bandmitgliedern aus der Bauchtasche gezerrt wurde. Die Kanadier von Brand of Sacrifice prügelten auf der Mainstage mit derben Deathcore-Blastbeats die Rippen aus den Zuschauern und die zweite Deathcore Band Schadow of Intent war dermaßen Laut, dass wir uns die Show in Erwartung von nachhaltigen Gehörschäden echt nicht geben konnten.  

    Abseits der Bühnen gibt es mehrere Möglichkeiten, sich unter Bäumen oder am Strand eine Ruhepause zu gönnen oder stilvoll auszunüchtern, zumindest bis man von überrepräsentierten Tabakindustrie-Promotern zum Drogenkonsum animiert wird. Insbesondere eine große Tabakmarke war mit einem riesigen Stand überpräsent, wo man sich schon die Frage stellen darf, ob es nicht bessere Sponsoren gibt. 

    Die Kanadier von Silverstein, die seit mittlerweile 20 Jahren für Shows nach Deutschland kommen, haben ihr gewohnt emotionales Post Hardcore Konzert gespielt und wenn Testosteron eine Band wäre, dann wären es die Franco-Kanadier von Get the Shot, dessen Vocalist einen weiteren Weg durch die Crowd zurückgelegt hat als der bei jedem fetten Breakdown obligatorisch durch die Menge geschossene halb volle Bierbecher. 

    Die vierte und kleinste Stage ist die Backyard Stage, auf der auch mal Bands spielen, die aus dem sonstigen Genre-Rahmen herausfallen. Die Elektropunkband Kochkraft durch KMA hat dort eine gute Show abgeliefert und dabei FLINTA-Personen empowert, eine Wall of Love zu starten, und dazu aufgerufen, das Merchandise-Business des Full Force zu boykottieren, da die Einnahmen zum Teil an das Festival gehen. Die britische Band As December Falls war mein persönliches Highlight des Festivals, denn die positive Energie der Sängerin war ansteckend und man hat gemerkt, die haben wirklich Spaß an der Performance. 

    Frontmann von "Get the Shot beim Crowdsurfen"

    Frontmann von „Get the Shot beim Crowdsurfen“

    Die erste Headliner Band des Abends war Ice Nine Kills. Im Portfolio eine perfekt durchchoreografierte Bühnenshow (Welcome to Horrorwood), samt Klamauk rund um das von ihnen verwurstete Horrorfilm-Thema. Jeder Song hat einen anderen Horrorklassiker wie American Psycho, Der weiße Hai oder Texas Chainsaw Massacre zum Thema mitsamt passender Bühnenrequisite – auch wenn die Show aufgrund der noch nicht untergegangen Sonne nicht 100-prozentig stimmig war.  

    Der zweite Headliner, der den Festivalsack dann auch zugemacht hat, war Five Finger Death Punch (FFDP). Die US-amerikansiche Band, die sich in den vergangenen Jahren einen riesigen Hype aufgebaut und eine für Metalverhältnisse riesige Fanbase hat, war im Vorfeld nicht ganz so willkommen. Zunächst mal muss man wissen, dass die Band in den USA vor allem im Army Umfeld große Beliebtheit genießt, da die Texte eine ziemliche Pathosrampe hin zum US-Patriotismus sind.Mit dem Song „Living the Dream“, in dem kurz gesagt das progressive politische Lager in den Staaten zerlegt wird, haben sich die Dudes auch nicht gerade überall Freunde gemacht. Entsprechend gab es im Vorfeld des Festivals große Kritik. Dabei wurde vor allem argumentiert, dass sich einige Personen in Gegenwart von FFDP-Fans unwohl fühlen könnten, da diese intolerant seien und für ein konservatives Weltbild stünden. Dazu ist jedoch klar zu sagen, dass diese Anschuldigung Bullshit ist. Allen Fans pauschal zu unterstellen, sie wären intolerante Rednecks, ist genauso eindimensional und vorurteilsbehaftet, wie sich einige wohl den gemeinen FFDP-Fan vorstellen. Naja, der Protest verlief schnell im Sand und die Band rundete mit einem soliden Set das Festival ab. 

    Wenn du bis hier her gelesen hast, obwohl du mit den Genres nicht viel anfangen kannst, gibt’s erstmal dicken Respekt. Zudem gibt’s die Empfehlung, sich das Festival selbst mal zu geben. Auf Grund der geographischen Nähe lohnt sich auch das Tagesticket und auch wenn weder Provinz noch Tim Bendzko auftreten – das Gefühl, sich von 100 Dezibel auf 180 BPM das Zwerchfell wegdreschen zu lassen und sich dabei zwischen Stahlriesen anbrüllen zu lassen, gehört auf jede Bucketlist. 

     

    Fotos: Benjamin Sasse

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