Wo fange Ich an?
Psychische Erkrankungen und Störungen prägen mein Verhalten. Doch wo hören sie auf und wo fängt meine Persönlichkeit an?
Mit 14 Jahren erhielt ich meine erste Diagnose von einem Psychotherapeuten: mittelschwere depressive Episoden. Und heute, drei Therapeuten, einen Psychiater und knapp sieben Jahre (fast ein Drittel meines bisherigen Lebens) später, sind unter anderem ADHS und eine Angststörung dazugekommen. Sie prägen mein Verhalten, mal mehr, mal weniger stark. Dabei fällt es mir oft schwer, zu unterscheiden: Sind meine Gefühle gerade real oder werden sie durch meine Erkrankung hervorgerufen? Wie wäre ich ohne die Erkrankung? Wo hört die Erkrankung auf und wo fängt meine Persönlichkeit an?
Dabei wirkt meine Depression wie ein Filter, der über die Welt gelegt wurde. Ein Filter, der vor allem negative Eindrücke und Gefühle durchlässt, sie in Teilen sogar verstärkt, während er eine undurchdringbare Barriere für alles Positive bildet. Sie gibt mir das Gefühl, dass tagtäglich das gesamte Gewicht der Welt auf meinen Schultern lastet. Bis ich unter der Last zusammenbreche. Dieser Filter, die Depression, verzerrt meinen Blick auf die Welt, auf menschliche Beziehungen und auf mich selbst. Er lässt mich in Selbstzweifeln und lähmenden Zukunfts- sowie Verlustängsten ertrinken. Wie kann die Depression da kein Teil meiner Persönlichkeit sein?
In meiner Verhaltenstherapie lerne ich, meinen Alltag trotz Depression auf die Reihe zu kriegen. Ich lerne, mit dieser chronischen Erkrankung zu leben, sie zu erkennen, wenn sie wieder zum Vorschein tritt, und wie ich damit am besten umgehe. Oft gelingt mir das schon, auch wenn regelmäßig auftretende Down-Phasen den Fortschritt erschweren.
Mit meiner Depression geht auch mein ADHS einher und beide bedingen einander. Allerdings können bei ADHS nur die Symptome gelindert werden, weshalb ich Medikamente verschrieben bekomme. Medizinisches Amphetamin, welches dazu beitragen soll, meine Konzentrationsfähigkeit zu steigern und mir ein möglichst „normales” Leben zu ermöglichen, indem es meinen zu geringen Dopaminspiegel anhebt. Wenn ich meine Medikamente nehme, dann fühle ich mich wacher, kann mich endlich auch über längere Zeit auf meine Aufgaben konzentrieren und habe am Ende sogar noch einen zusätzlichen Dopaminschub, weil ich merke, dass ich auch Dinge fertigstellen kann.
Natürlich bin ich froh darüber, dass mir die Medikation hilft, meinen Alltag deutlich besser zu bestreiten. Insbesondere in den ersten Wochen war meine Freude über die gesteigerte Produktivität groß. Ich habe es geschafft, innerhalb eines Tages eine komplette Kurzgeschichte von mir zu vertonen, samt Soundeffekten, Musik und einem Cover. Am nächsten Tag habe ich die vollständige Handlungszusammenfassung meines Romanprojekts runtergeschrieben. Früher war das für mich undenkbar. Dabei darf ich nicht vergessen, dass mein Wert als Mensch nicht von meiner Leistung und meiner Produktivität abhängt. Auch wenn die gesellschaftlichen Erwartungen etwas anderes vorheucheln. Auskosten kann ich diese Erfolgserlebnisse nur selten, da mich einige Fragen in meinem Hinterkopf quälen. Hätte ich das auch ohne Medikamente hinbekommen, wenn ich „normal” wäre? Bin ich erst ein normaler Mensch, wenn ich meine Medikamente genommen habe? Und: Ist es klug, Menschen wie mir, die durch ihren Dopaminmangel sowieso schon suchtanfälliger sind, Amphetamin zu verschreiben? Auch Ängste sind damit verbunden. Ich muss darauf achten, dass die Medikamente bis zum nächsten Termin beim Psychiater reichen. Meist sogar darüber hinaus, da es oft zu Lieferengpässen bei den Apotheken kommt. Zudem ist da die Angst vor einem Gewöhnungseffekt und dass die leistungssteigernde Wirkung irgendwann nachlässt.
Eine wichtige Lehre war für mich, dass ich die Erkrankung oder Störung nicht als Ausrede benutze. Sie bieten Erklärungen, warum ich am Wochenende nun doch nichts mit meinen Freunden unternehme. Sie bieten Erklärungen dafür, warum ich mich plötzlich sozial isoliere und eine Auszeit brauche. Doch sind sie niemals eine Rechtfertigung für mein arschiges Verhalten gegenüber liebgewonnenen Menschen. Viele meiner Freundschaften haben darunter gelitten, dass ich zu wenig über meine Bedürfnisse kommuniziert habe. Dass ich zu viel in harmlose Aussagen oder lieb gemeinte Kritik interpretiert habe und am Ende der Überzeugung war, dass mich doch niemand leiden kann, ja, dass die ganze Welt mich hasst. Gerade dann ist es einfach, in meiner Depression zu versinken und mich den ewig gleichen Gedankenschleifen hinzugeben.
Mein Therapeut beschrieb meine Depression einmal als eine Art inneren Schutzschild, welcher mich vor erneuten sozialen Zurückweisungen bewahren will. Nach dem Motto: „Wenn du dich selbst komplett isolierst, kann dich auch niemand mehr verletzen.“ Sie suggeriert einen leichten Weg, mit den Problemen der Welt umzugehen. Wenn ich mich abschotte, meine sozialen Kontakte schleifen lasse, Konflikten aus dem Weg gehe und mich in meinem Bett verkrieche, dann wird schon alles gut. Warum noch dagegen ankämpfen, zur Therapie gehen, wenn die Depression mich doch vor dem Leid zwischenmenschlicher Beziehungen schützt? Ich könnte den Gedanken nachgeben. Dann müsste ich mich nicht mehr überwinden, unter Leute zu gehen und wäre am Ende des Tages auch nicht immer so erschöpft und ausgebrannt. Dabei weiß ich, dass es mir dadurch nicht besser gehen würde. Ich weiß, dass ich soziale Kontakte brauche sowie die Bestätigung von außen, die meinen depressiven Gedanken zeigt, dass ich gut genug und liebenswert bin.
Letztlich kann ich nicht ändern, dass ich mit psychischen Problemen zu kämpfen habe. Doch wie bei anderen Problemen kann ich auch hier einen passenden Umgang finden und entscheiden, was sie aus mir machen. Ob mit Therapie oder Medikamenten oder indem ich in einer Leipziger Hochschulzeitung über sie schreibe. Ich glaube, nicht die Erkrankung macht meine Persönlichkeit aus, sondern der Weg, wie ich mit ihr umgehe.
Titelbild: Jo Fedelinski
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