Immer wieder ohnmächtig
Verbale und physische Gewalt gegen weibliche Personen geschieht täglich, stündlich, minütlich. Autorin Lene setzt sich mit dem Gefühl der Angst vor der ständigen Bewertung und Abwertung auseinander.
Dies ist einer dieser Texte. Einer dieser emotionalen Texte einer weiblichen Person, die von Misogynie schreibt. Ein Text, bei dem die eine oder andere männliche Person sicher insgeheim die Augen verdreht. Weil man das ja selbst nicht mache und ja schon rücksichtsvoll sei und sich ja schon mit Feminismus auseinandersetze. Und ist man nun selbst das Feindbild Nummer eins? Und man hat das ja jetzt schon sehr oft gehört. Weil man sich als Mann dann vielleicht doch dann und wann denkt, dass man ja ohnehin alles falsch mache und manche Reaktionen von Frauen auf Komplimente auch schon etwas übersensibel seien. Ein Text, dessen Inhalt bei ausnahmslos jedem Treffen mit meinen weiblichen Freundinnen besprochen wird. Ein Text darüber, dass ich es nicht mehr aushalte.
Zeitraum: Sonntag bis Mittwoch
Sonntagnachmittag. Ich sitze in der Bahn. Mir gegenüber sitzt ein Mann. Ganz nettes Gesicht, nicht allzu groß, vielleicht Anfang 50. Ich merke, dass er mich ansieht, ich blicke kurz auf, nicke und konzentriere mich wieder auf mein Buch. Nach 30 Minuten steige ich aus. Er steht etwa fünf Sekunden später ebenfalls auf. Er folgt mir. „Entschuldigung…mache das ja eigentlich nicht…du hast eine unglaublich inspirierende Energie…Du warst heute Morgen schon in der Bahn, oder…bist mir da schon aufgefallen…du bist ausgestiegen und ich eingestiegen…gerade wollte ich aussteigen und wollte nach Hause gehen…und da warst du wieder…Schicksal…wieder in die Bahn gestiegen…musste dich ansprechen.“ 30 Minuten saßen wir uns gegenüber. 30 Minuten beobachtete er mich. 30 Minuten fuhr er in die falsche Richtung wegen meiner „inspirierenden Energie“. Stummes Schreien.
Montagmittag. Wieder steige ich aus dem Zug. Viele Menschen am Gleis. Hinter mir ein paar schnelle, laute Schritte. „Hey…echt heiß…Kaffee diese Woche?“
Montagabend. Ich bin auf dem Rückweg nach Hause. Die Berliner Straßenlaternen leuchten hell. „Hey na…auf dem Weg nach Hause…Cocktail?“
Dienstagnachmittag. Irgendein Auto macht das Fenster auf „Wooooooow“ und ein Pfiff.
Mittwochmorgen. Ich bin mit zwei Freundinnen Frühstücken. Wir wollen gehen und ich gehe zur Theke, um zu bezahlen. Auf dem Rückweg zu unserem Tisch kommt mir ein Mann entgegen. Haare schneeweiß. Er saß alleine zwei Tische weiter. „Hey…musste das einfach sagen… was ein schönes Lächeln“
Vier Tage von vielen. Vier Tage, die keine Ausnahme waren – im Gegenteil. Ich fühlte an diesen vier Tagen nicht einmal mehr Wut. Denn Wütendsein kostet zu viel Kraft. Meine Reaktion ist eine andere. Mein Magen verkrampft sich. Für einen Moment bleibt mir die Luft weg und Tränen steigen mir in die Augen. Mein Mund wird trocken. Angstreaktion.
Keine Kraft für Resignation
„Das war ja harmlos, immerhin ist er ja nicht physisch gewaltsam geworden“, kommentiert mein Vater. Verbale Machtausübung genügt vielleicht nicht, um zu schockieren. „Ein schönes Lächeln – das kann ja noch ein Kompliment sein, oder?“, sagt ein Freund. Im richtigen Kontext und Raum, von einer mir nahestehenden Person ist das natürlich ein schönes Kompliment. Doch das ist ein Unterschied. Hier war es für mich einmal mehr die Erinnerung daran, beobachtet und bewertet worden zu sein. Und zwar in einem Café, über zwei Tische hinweg von einem mindestens 30 Jahre älteren Mann.
Bei jedem Treffen mit meinen Freundinnen berichtet mindestens eine von uns von mindestens einer Erfahrung mehr. Manchen von ihnen gelingt es, zu resignieren. Der Gewöhnungseffekt hat sich bei ihnen eingestellt. Manche raten mir, doch endlich unfreundlicher zu sein, Männer sofort klar abzuweisen und auch zu resignieren. Mir gelingt das nicht. Mein Äußeres wird bewertet. Nichts anderes. Mir macht dieses Bewertetwerden schlichtweg Angst. Und ich reagiere hilflos, bringe nicht die Kraft auf, wütend oder sofort genervt zu sein. Ich kann nicht resignieren, kann mich nicht an dieses Gefühl gewöhnen. An diese Angst davor, sexualisiert und – ja, es folgt ein schon oft gehörtes Schlagwort – objektifiziert zu werden. Es macht mich traurig, dass ich die bin, die Kraft für Wut und Gleichgültigkeit aufbringen soll. Ich bin nicht die Akteurin, die die Verantwortung dafür trägt, diesen Situationen ständig ausgesetzt zu sein. Warum ist es meine Aufgabe, abgehärtet zu reagieren?
Es ist zu viel
Immer beobachtet. Immer bewertet. Abgewertet. Und es bleibt nicht bei dieser „harmlosem“ Demonstration von männlicher Überlegenheit, die mir nicht grundlos Angst macht. Es bleibt nicht bei verbaler Gewalt. Jeden dritten Tag bleibt es nicht dabei. Jeden dritten Tag bringt ein Mann seine (Ex-)Partnerin um – jeden dritten Tag ein Femizid. Laut UN Women Deutschland erlebt alle vier Minuten eine Frau Gewalt durch ihren Partner oder Ex-Partner. 2023 erlebten 4.622 Frauen sexualisierte Gewalt durch ihren Partner oder Expartner – alle zwei Stunden.
Im Februar 2024 werden in Wien an einem einzigen Tag fünf weibliche Personen getötet. In Berlin-Zehlendorf wird Ende August 2024 eine Frau von ihrem Expartner mit einem Messer erstochen. Nicht weit von Leipzig: Am 23. August ein versuchter Femizid in Markranstädt. Am 1. September 2024 wird die Olympia-Läuferin Rebecca Cheptegei von ihrem Expartner mit Benzin übergossen und angezündet. Diese Aufzählung kann unendlich weitergeführt werden. Ich halte es kaum aus, sie weiterzuführen. Doch auch, wenn es Angst macht und für mich als weibliche Person kaum ertragbar ist – diese Ereignisse müssen berichtet und als Femizide benannt werden. Es braucht die Thematisierung verbaler und physischer Gewalt gegen Frauen.
Immer und immer wieder
Texte, die Femizide und Misogynie als solches benennen, sind notwendig. Sie sind kein Pop und kein Trend. Sie sind nicht anstrengend. Es ist nicht irgendwann auch mal gut. Diese Texte meinen nicht, dass ich jede männliche Person, der ich begegne, als meinen Feind wahrnehme. Männer und Männlichkeit sind nicht Feindbild Nummer eins. Aber männliche Personen sind dazu verpflichtet, zuzuhören. Immer und immer wieder. Emotionale Reaktionen sind nicht als übersensibel zu bezeichnen, auch nicht im Stillen. Denn jede weitere Erfahrung, jeder weitere Tropfen bringt das Fass zum Überlaufen. Also läuft es über. Also läuft eine Träne und noch eine über meine Wange. Aus Angst, aus dem Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht. Ich gewöhne mich nicht an diese Ohnmacht.
Titelbild: Hannah Marlene Göschel
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