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  • Auf der Suche nach dem verlorenen Schwein

    Kolumnistin Isabella hat kürzlich den Schock ihres Lebens erlebt – und dabei gemerkt, wie viel sentimentalen Wert Gegenstände haben können.

    „Bob ist verschwunden!“ 

    Mit dieser Hiobsbotschaft begrüßte mich meine Mutter eines Tages am Telefon. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Das konnte, das durfte nicht sein! Nicht ausgerechnet Bob! 

    Wer ist Bob, mag man sich jetzt fragen. Ein verrückter Onkel? Ein Haustier? Nein. Bob ist ein Schwein. Zumindest glaube ich, dass er ein Schwein sein soll – er ist rosa und hat eine dicke runde Nase. Ehrlich gesagt ist alles an ihm dick und rund. Und rosa. Und – so aufrichtig muss ich jetzt mal sein – beängstigend hässlich. Aber er ist eben auch das Kuscheltier meiner Eltern. Wenn ich als Kind nicht schlafen konnte und zu meinen Eltern ins Bett gekrochen bin, lag Bob in der Lücke zwischen ihnen, in die ich mich reingekuschelt habe. Bob ist mit uns nach Disneyland gefahren, nach Spanien, nach Bayern und in die Schweiz. Bob ist länger Teil der Familie als ich. Bob hat bestimmt ein halbes Dutzend Renovierungen überstanden und ist Anfang der Neunziger in der Kaiseralm verloren gegangen, noch lange vor meiner Geburt. Er konnte in einer Mülltonne geborgen werden und bis heute weiß niemand, wie er dort hineingelangt ist. Bob behält dieses Geheimnis für sich. Bob hat ein bewegteres Leben als ich. 

    Endlich ist Bob wieder aufgetaucht!

    Tja, und dann mussten meine Eltern wegen einer Sanierung ihrer Wohnung in eine Umsetzwohnung umziehen, nur für knapp eine Woche. Kisten wurden gepackt, Koffer sowieso, Möbel wurden für die Renovierung verrückt und Betten abgedeckt. Und plötzlich war Bob weg. Einfach so. Niemand konnte sich sein plötzliches Verschwinden erklären. Hatte er genug von uns? Ist er einfach abgehauen? Hat er eine ebenso hässliche Schweinedame kennengelernt (oder einen Schweineherren) und ist mit seiner neuen Liebschaft durchgebrannt? Wollte er die Welt sehen? Oder hat einer der Handwerker ihn in einem Anflug unmenschlicher, bestialischer Grausamkeit gestohlen, weil er seinen von Kinder-Fingernägeln zerkratzten Äuglein nicht widerstehen konnte? 

    Ich habe mir Sorgen um Bob gemacht. Ich habe mich auch gefragt, warum ich mir Sorgen um Bob mache. Bob ist ein Kuscheltier. Der hat keine Gefühle – oder? Irgendwie tat er mir leid, wo auch immer er war. Bob gehört doch zu uns! Plötzlich bin ich richtig sentimental geworden. Bob ist eben nicht nur ein Kuscheltier, sondern ein Teil meiner Kindheit. Wie die Weihnachtstischdeckchen, auf denen wir früher Raclette und Fondue gegessen haben, bis meine Mutter nach meinem Auszug beschloss, sie in den Müll zu schmeißen. Danke dafür, Mama. Ich vermisse sie immer noch. Oder die Disney-Trinkgläser, die im Laufe der Jahre eins nach dem anderen kaputtgegangen sind. Der Schlitten, auf dem ich mit meinen Brüdern durch verschneite Parks gesaust bin. Die bunten Puzzles, die an den Wänden hängen (ja, andere Familien hängen sich Gemälde an die Wände, bei uns sind es Puzzles). Die graue Lederjacke meines Vaters, in die ich mich immer so schön reinkuscheln konnte, wenn wir zusammen unterwegs waren. Der Blumenpulli meiner Mutter, den sie heute nur noch zum Putzen anzieht. Die „Strafbank“, die… Ach nein, das ist eine Geschichte für die nächste Kolumne. Könnte einen Shitstorm geben. 

    Das alles sind eben nicht nur Gegenstände, es sind Erinnerungen. Erinnerungen an Erlebnisse, an Gefühle, an gemeinsame Zeit, die irgendwann, wenn man ausgezogen ist und ein eigenes Leben führt, zu wenig wird. 

    Bob ist irgendwann wieder aufgetaucht. Diesmal nicht im Müll, sondern in – wer hätte es gedacht – der Kiste, in der meine Eltern all unsere Kuscheltiere von früher sammeln (Ist das eigentlich süß oder weird? Ich kann mich immer nicht entscheiden). Vielleicht werfe ich da demnächst mal einen Blick rein und schaue, wen ich noch so finde. Natürlich zusammen mit Bob. 

     

    Fotos: ik

     

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