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    Kolumnist*in Jo über die Lücke im Lebenslauf und warum es hilfreich sein kann, sich doch mal mit anderen zu vergleichen.

    Morgen steht mein erster richtiger Uni-Tag an. Zum zweiten Mal. Mein erstes Studium habe ich nach etwa zwei Semestern abgebrochen. Schaut man in meinen Lebenslauf, dann sieht man neben einigen freiwilligen Schülerpraktika, meinem Abitur und einem abgebrochenen Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ) vor allem eine große Lücke von etwa einem Jahr. Ein Jahr, in dem ich scheinbar „nichts“ gemacht habe und in dem trotzdem für mich sehr viel passiert ist.

    Doch wie kam es zu dieser Lücke?

    In meinem Familienkreis wurde ich häufig gefragt, was ich denn nun studiere. Auf meine Antwort „Soziologie“ kam dann meist direkt die nächste Nachfrage: „Und was willst du später damit machen?“ Oft kam ich dann erstmal selbst ins Grübeln. Ja, was wollte ich denn später mal damit machen? Eine wirkliche Antwort hatte ich nicht, weshalb ich versuchte, mich etwas heraus zu reden. Irgendwas in Richtung Journalismus. Oder eher politische Arbeit. Vielleicht auch was mit Gewerkschaften. Ganz konkret konnte ich es nicht benennen. Zudem sah mein Familienumfeld Gesellschaftswissenschaften  nicht unbedingt als „richtigen Beruf“ an. Das ging sogar so weit, dass ich es eher vermied, von meinem Studium zu erzählen. Ich hoffte, bloß nicht darauf angesprochen zu werden. Jedoch waren die Reaktionen meiner Familie nicht ausschlaggebend für den Abbruch. Die Gründe dafür sind vielfältig. Neue Stadt, neue Menschen, neues Umfeld, neue Lebenssituation, neue Anforderungen. Ich musste erstmal mit den neuen, oft überfordernden Umständen zurechtkommen, bevor ich mich überhaupt auf das Studium konzentrieren konnte. Der Entschluss, mein Soziologiestudium abzubrechen, ging mit großen Zweifeln einher. Insbesondere dadurch befeuert, dass ich auch mein FSJ nach zwei Monaten abgebrochen hatte. Bin ich einfach nicht durchsetzungsstark, nicht motiviert genug, um Dinge zu Ende zu bringen?

    Nach dem Abbruch meines Studiums und der Absage für ein Kommunikations- und Medienwissenschaftsstudium in Leipzig hatte ich mir den Plan gefasst, das Jahr zu nutzen, um herauszufinden, was ich wirklich machen wollte. Ich schrieb weiterhin für luhze, übernahm sogar für einige Zeit die Leitung des Kalenderressorts und bemühte mich um Praktika. Außerdem bewarb ich mich auf einige ausgeschriebene Volontariate. Ich wollte lieber „was Praktisches“ machen, anstatt mich wieder in hochtheoretische Vorlesungen eines Studiums zu stürzen. Etwas, woran ich meine Fortschritte konkret beobachten und weiter ausbauen kann. Aus den Volontariaten wurde leider nichts, was mich sehr mitgenommen hat und mich erneut an mir selbst zweifeln ließ. Bin ich gut genug für das, was ich unbedingt erreichen möchte?

    Statt eines Volontariats fand ich eine dreimonatige Praktikumsstelle bei einem Radiosender aus Halle.

    Ich wollte etwas „Praktisches“ machen und bin dann doch wieder bei einem Studium gelandet. Kann ich das als Misserfolg werten? Nein. Ich glaube, ich habe mit meinem Studiengang in Halle eine sehr gute Wahl getroffen. Medien- und Kommunikationswissenschaften sowie Politikwissenschaften. Zwei Themenfelder, die mich unglaublich interessieren und auch gut miteinander kombinierbar sind. Zudem liegt in Halle in Medien- und Kommunikationswissenschaften ein deutlich stärkerer Fokus auf der praktischen Anwendung.

    Nach diesem Jahr kann ich sagen, dass es sich vielleicht nicht gut im Lebenslauf macht, mich aber persönlich weitergebracht hat. Ich kann jetzt genau sagen, was ich im Leben machen und erreichen möchte. Es hat mich in meinem Entschluss bestärkt, Journalist werden zu wollen. Es war definitiv keine verschwendete Zeit. Und seien wir mal ehrlich: ich hätte sogar sehr viel mehr Zeit damit verschwendet, irgendwie mein Soziologiestudium durchzuziehen, um dann am Ende festzustellen, dass es doch nichts für mich ist.

    Mein Lebensweg verlief nicht linear, doch die Umwege haben mich persönlich weitergebracht.

    Man muss nicht immer den perfekten Lebenslauf haben. Man kann nicht einfach sein komplettes Leben auf eine ganz bestimmte Karriere hinarbeiten und es darauf ausrichten. Pausen im Lebenslauf, in denen oft ein großes persönliches Wachstum stattfindet, werden noch immer als vermeintlich schändliche Lücke wahrgenommen, in der du einfach nur faul warst und nichts dafür getan hast, dich möglichst schnell dem kapitalistischen Verwertungssystem unterzuordnen.

    Nein, ich muss mich in meinem FSJ nicht mit beschissenen Arbeitsbedingungen unter Mindestlohn abfinden. Nein, ich muss mich nicht von der Stationsleitung anschreien lassen, warum ich bestimmte Sachen noch nicht könne, obwohl die Einarbeitung aus nur einem einzigen Satz bestand: „Lauf einfach den Azubis hinterher, die erklären dir schon alles.“

    Diese Einsicht musste ich mir erst erarbeiten.

    Dabei hat mir eine Sache geholfen, von der mir meine Eltern, mein Therapeut und meine Freunde oftmals abgeraten haben: Ich habe mich mit anderen verglichen. Ganz konkret: Ich habe mich mit Leuten aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis verglichen. Ein Freund von mir studierte jahrelang Soziologie, bis er das Studium mit etwa Mitte zwanzig abbrach, um eine Ausbildung zum Mediengestalter zu machen. Ein Kollege während meines Praktikums hatte Jura bis zum ersten Staatsexamen studiert, bevor er mit Ende zwanzig seiner Leidenschaft nachging, um im Rundfunk Fuß zu fassen. Mein Mitbewohner holte nach seiner Ausbildung zum Chemikanten sein Abitur nach und studiert jetzt Politikwissenschaften.

    Niemand sollte sich dafür rechtfertigen müssen, auch einfach mal „unproduktiv“ zu sein. Ich weiß, dass ich mich in der äußerst privilegierten Position befinde, in der ich mir einfach mal ein Jahr „Auszeit gönnen“ kann. Ich bin nicht auf Bafög oder einen Nebenjob angewiesen, um meine Miete zu bezahlen, was extrem viel Druck aus der Sache nimmt. Auf einen geraden und gut gefüllten Lebenslauf zu scheißen, muss man sich leider leisten können.

    Jetzt stehe ich wieder kurz vor einem Studium. Die Nervosität, die ich vor meinem ersten spürte, ist etwas weniger. Aber etwas ist anders. Dieses Mal weiß ich, worauf es in einem Studium ankommt. Dieses Mal weiß ich, welche Fehler dazu geführt haben, mein Soziologiestudium abzubrechen. Und dieses Mal habe ich ein konkretes Ziel vor Augen.

     

    Fotos: privat

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