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  • Zwischen Europäisierung und Halbbildung

    Im Juni 1999 wurde die Bologna-Erklärung unterzeichnet und mit ihr in europäischen Hochschulen ein großer Reformprozess angestoßen. Ein Vierteljahrhundert danach ergibt sich eine gemischte Bilanz.

    Die Stadt Bologna hat viele Kosenamen. Unter anderem firmiert sie als „La Dotta“ („die Gelehrte“) nicht nur wegen ihrer rund 85.000 Studierenden als Universitätsstadt, sondern auch aufgrund der unterschiedlichen Kapitel Hochschulgeschichte, die dort geschrieben wurden. Da ist zum einen die Universität Bologna zu nennen, die 1088 gegründet wurde und damit die älteste Institution dieser Art in Europa ist. Zum anderen fanden sich 29 Bildungsminister*innen europäischer Staaten am 19. Juni 1999 in der Aula Magna der Universität zusammen und unterzeichneten die Bologna-Erklärung. Gerade Letzteres prägt die heutige Hochschulstruktur. Inzwischen sind 25 Jahre seit diesem Tag vergangen und die Reform gilt für viele als „Erfolg europäischer Kooperation“, wie Holger Mann, Bundestagsabgeordneter für die SPD aus Leipzig, in einer Bundestagsrede unterstreicht. Andererseits wird Bologna auch als Schlagwort für Probleme in der derzeitigen Studienstruktur und psychische Belastung Studierender verwendet.  

    Internationalisierung des Studiums

    Zu den Kernzielen der Reform gehören die Einführung eines zweistufigen Studienzyklus, eines ECTS-Kreditpunktesystems, die Vereinfachung der Anerkennung von Studienleistungen und -abschlüssen, Mobilitätsförderung der Studierenden und Hochschulangehörigen sowie die europäische Zusammenarbeit in der Qualitätssicherung. Ziel war die Harmonisierung des europäischen Hochschulwesens. „Die Bologna-Erklärung war eine Initiative, die Freiheitsgewinne mit sich bringen sollte: nämlich internationalen Austausch. Insgesamt hat die Reform die internationale Verständlichmachung von Studienabschlüssen erheblich erleichtert“, sagt Peer Pasternack, Direktor des Instituts für Hochschulforschung Halle-Wittenberg.

    Momentan studieren rund 130.000 deutsche Studierende im Ausland und etwa 460.000 internationale Studierende lernen derzeit an deutschen Hochschulen. Im Rahmen des Bologna-Prozesses wurde 2011 ein Mobilitätsziel festgelegt, wonach mindestens 20 Prozent aller Hochschulgraduierten eines Jahrgangs bis 2020 studienbezogene Auslandserfahrungen gesammelt haben sollen. Deutschland hat diese Zielquote in 2020 mit 17,1 Prozent nicht erreicht, wobei man jedoch über dem Durchschnitt der EU von 13,5 Prozent lag. Außerdem sollte bis 2020 jede*r zweite Hochschulabsolvent*in studienbezogene Auslandserfahrung gesammelt haben und jede*r dritte Hochschulabsolvent*in einen studienbezogenen Auslandsaufenthalt von mindestens drei Monaten oder 15 ECTS-Punkten vorweisen können. Mit rund 23 Prozent, beziehungsweise 21 Prozent wurde auch diese Zielsetzung deutlich verfehlt.

    Organisierte Halbbildung
    „Internationale Mobilität ist etwas, das sich kaum jemand leisten kann“, sagt Clara Gutjahr vom Kollektiv Organisierte Halbbildung. Zusammen mit vier weiteren (ehemaligen) Studierenden hat sie im Frühjahr den Sammelband „Organisierte Halbbildung. Studieren 20 Jahre nach der Bologna-Reform“  herausgegeben. Unter dem Titel war zunächst ein autonomes Tutorium, also ein studentisch organisiertes Seminar, in denen keine Leistungspunkte erworben werden können, geplant. Dieses stieß jedoch auf geringe Resonanz. Die Idee einer Veranstaltungsreihe wurde auch verworfen und man fokussierte sich schnell darauf, ein Buch herauszugeben. „Am Ende ist alles etwas größer geworden als gedacht“, sagt Moritz Richter, Mitherausgeber des Sammelbands.

    Insgesamt 41 Autor*innen thematisieren in den Beiträgen die gegenwärtigen Studienbedingungen in der „neoliberalen Universität“, die vor allem durch die Bologna-Reform geprägt sind. Dabei gehe es den Herausgeber*innen nicht nur um einen sozialwissenschaftlich-analytischen Blick auf die derzeitigen Hochschulstrukturen. „Wir haben auch einen politischen Anspruch“, sagt Gutjahr und ergänzt: „Es geht darum, auf die Lebensrealitäten von Studierenden aufmerksam zu machen. Diese sind in der Regel eine recht unsichtbare Gruppe.“ Zudem sei es ein Anliegen gewesen, herauszuarbeiten, welche Probleme durch Bologna bedingt sind und welche nicht, sagt Richter.

    In der Tat sind im Rahmen des Bologna-Prozesses selbst strukturell nur grobe Rahmenvorgaben formuliert. Zudem ist die Bologna-Deklaration eine rechtlich nicht bindende Absichtserklärung. Erst wenn die formulierten Ziele in die nationalen Hochschulgesetze übertragen werden, sind sie für die Hochschulen rechtlich bindend. In Deutschland sind im Wesentlichen die Bundesländer für die Bildungspolitik zuständig, weshalb die Umsetzung der Bologna-Reform vor allem Sache ihrer Minister*innen und Parlamente ist. Über die Kultusministerkonferenz stimmen die Länder ihre Hochschulpolitik miteinander ab. 

    Verschulung und Leistungsdruck
    Bestand das Studium vor der Bologna-Reform vorwiegend aus einzelnen Vorlesungen, Seminaren oder Übungen, aus denen Studierende relativ frei wählen konnten, ist das Studium nach der Reform durch eine Abfolge von Modulen charakterisiert. Als Folge ist das Studium stärker strukturiert, was vor allem durch die studienbegleitenden Prüfungen bedingt wird: Jedes Modul soll mit einer Prüfung abgeschlossen werden. Eine große Abschlussprüfung zum Ende des Studiums, wie sie im Magister- oder Diplom-Studium üblich waren, gibt es so nicht mehr. Die Abschlussnote setzt sich stattdessen aus den Modulnoten zusammen. 

    „Insgesamt traut man Studierenden wenig zu“, sagt Gutjahr. Am Ende gehe es nur um die Leistungsüberprüfung. Als Folge der größeren Prüfungsmenge entstehe ein großer Leistungsdruck, meint auch Paul Steinbrecher, Sprecher der Konferenz Sächsischer Studierendenschaften (KSS), und spricht in dem Zusammenhang von einer „Mental Health-Krise“ der Studierenden. Wie eine Erhebung der Techniker Krankenkasse aus 2023 zeigt, hat sich der Anteil der Studierenden, die sich häufig gestresst fühlen, von 23 Prozent (2015) auf 44 Prozent (2023) fast verdoppelt. „Man hat diesen Leistungsdruck und muss sich gleichzeitig darum kümmern, was man später mit dem Abschluss macht oder ob man noch fünf Praktika dranhängen muss. Das prägt die persönliche Einstellung und erfordert viel Kraft und Privilegien“, fasst Richter die Situation vieler Studierender zusammen. Jedoch: Eine Pflicht zur Einführung von Anwesenheitspflichten oder zur Benotung jeder Prüfung ist in den Bologna-Deklarationen nicht explizit festgeschrieben.

    Zweigliedrigkeit des Studiums
    Einhergehend mit der Bologna-Reform wurde das Studium nicht nur modularisiert, sondern auch die Stufung der meisten Studiengänge verändert. Vor der Reform bestand das Studium in Deutschland nur aus einer Stufe: Nach in der Regel neun Semestern wurde ein Diplom- oder Magister-Abschluss oder ein Staatsexamen angestrebt, wobei es letzteres im Lehramtsstudium nach wie vor gibt. Mittlerweile machen Bachelor- und Masterstudiengänge etwa 91 Prozent der Studiengänge in Deutschland aus.

    „Das Bachelorstudium eröffnete die Option, dass man eine überschaubare biografische Etappe absolviert und trotzdem einen Abschluss vorweisen kann“, sagt Peer Pasternack. Das heißt, ob man noch einen zweiten Abschluss macht, kann jede*r Student*in auch später entscheiden. Es besteht aber die Möglichkeit, zunächst einen Beruf aufzunehmen. Dies sei auch die Erwartung der Ministerialbürokrat*innen gewesen, meint Pasternack. Wenn die Studierenden erstmal das Bachelor-Studium absolviert haben und zum größten Teil erfolgreich auf dem Arbeitsmarkt gelandet sind, dann würde es relativ wenige geben, die zusätzlich ein Masterstudium absolvieren.  Die Erwartung sei gewesen, dass man dauerhaft eine Verteilung von Bachelor- und Masterabsolvent*innen von ungefähr 70 zu 30 Prozent erreicht.

    Wie das statistische Bundesamt mitteilt, lag jedoch 2020 die Übergangsquote vom Bachelor- zum Masterstudium an Universitäten bei rund 66 Prozent. Laut Pasternack, habe sich das Beschäftigungssystem in der Vergangenheit nicht als besonders aufnahmefähig für Bachelorabsolvent*innen erwiesen. „Viele Arbeitgeber möchten gerne Leute haben, von denen man erwarten kann, dass sie nicht nur ein ‚verschultes‘ Bachelorstudium haben, sondern sie möchten solche, die mit offenen Situationen umgehen und Alternativen abwägen können – und die vor allem ein bisschen älter sind“, sagt er.

    Neues Studieren?
    Wie Clara Gutjahr und Moritz Richter vom Kollektiv Organisierte Halbbildung betonen, hätten auch sie kein Patentrezept zur Lösung aktueller Probleme in der Hochschulorganisation. Jedoch sehen die beiden mögliche Änderungen der Prüfungsordnungen als einen ersten Schritt in die richtige Richtung. „Schriftliche und mündliche Prüfungen fördern Bulimie-Lernen und sind für den Kompetenzerwerb nicht besonders wirksam“, findet auch Pasternack. Für eine kreative  Gestaltung von Lehre brauche es demnach Prüfungsformen, die beispielsweise die Bewertung von semesterbegleitenden Gruppenresultaten ermöglichen. Dadurch werde zum einen der Prüfungsdruck am Ende eines Semesters erheblich reduziert und zum anderen könnten positive didaktische Effekte erzielt werden. Steinbrecher stimmt dem zu, ergänzt jedoch, dass diese nicht zu versteckten Anwesenheitspflichten führen dürfen. Dadurch entstehe eine massive Unvereinbarkeit von Studium und Privatleben. Generell sieht Steinbrecher derzeitige Defizite im deutschen Studiensystem nicht nur als Resultate der Bologna-Reform. Allgemein würden Hochschulen mehr Geld und weniger Abhängigkeit von Drittmitteln benötigen: „Der extreme Wettbewerb zwischen Hochschulen muss aufhören. Bildung darf keine Ware sein“, so der Sprecher der KSS.

     

    Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

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