Brücken der Erinnerung
"Komm dahin, wo es still ist" von Vanessa Vu und Ahmed Katlesh erzählt von Flucht, Identität und der Suche nach Heimat – eine Erkundung zweier Liebender.
Ein Buch in Briefen. Briefe, die Geschichten von Ängsten, Erinnerungen an Familie, Heimat und die Suche danach erzählen. Vu und Ahmed Katlesh lernten sich beim Tango kennen, heute sind sie ein Ehepaar. In „Komm dahin, wo es still ist“ teilen sie Auszüge der Briefe und E-Mails, die sie einander schreiben, seit sie sich kennenlernten. Zwei Menschen öffnen einander die Türen zu ihrer Vergangenheit. Eine nachdenkliche Liebesgeschichte.
Dieses Buch ist ein Austausch über den Zeitraum von Dezember 2021 bis Januar 2024. Vu schreibt auf Deutsch und, wenn die deutsche Entsprechung für ein bestimmtes Wort fehlt, auf Vietnamesisch. Katlesh schreibt ihr auf Arabisch, wie wir am Anfang erfahren – die Leser*innen lesen seine Worte übersetzt ins Deutsche von Günther Orth. „Komm dahin, wo es still ist“ erschien im Juni 2024 im Rowohlt Taschenbuch Verlag.
Vanessa Vu ist Journalistin und seit 2017 Redakteurin bei ZEIT Online. Außerdem war sie bis 2023 Host des Podcast „Rice and Shine“. Bis heute ist sie Moderatorin des „Klassenzimmers“.
Anfang der neunziger Jahre flohen ihre Eltern aus Vietnam. Sie selbst wuchs gemeinsam mit ihrer Schwester in einem Asylbewerberheim in Pfarrkirchen auf. Später zog ihre Familie in ein eigenes Haus in Bayern.
Vu beginnt dieses Buch genau dort – mit einem Brief, in dem sie über einen Besuch zurück in ihrem Kinderzimmer schreibt: „Mit jedem Jahr staune ich mehr über das Leben, das ich zurückgelassen habe. Über Details, die ich längst vergessen habe. Gerade vermisse ich dich aber einfach nur.“ Sie teilt ihre Gedanken über die Suche nach Identität, über ihre Wut über rassistische Erfahrungen.
Und sie schreibt über die Frage nach Heimat, wie sie sich während ihres Auslandssemesters in Paris danach auf die Suche begeben hat – und was sie in den Monaten dort über Vietnam und die Zeit der französischen Kolonialisierung dieses Landes lernte. Die Briefe an ihren Mann sind vor allem Gedanken darüber, wie geteilte und verschwiegene Erinnerungen auf die Zukunft wirken – auf ihre eigene und die ihrer Ehe.
Ahmad Katlesh ist Autor, er veröffentlicht Kurzgeschichten und Gedichte sowohl auf Deutsch als auch auf Arabisch. Er floh 2013 aus Damaskus zunächst nach Jordanien und gelangte später mit Hilfe eines Stipendiums des Heinrich-Böll-Hauses nach Deutschland. In seinen Briefen schreibt Katlesh häufig in Metaphern, webt seine eigenen verbliebenen Erinnerungen in sie ein. Er schreibt von den Erinnerungen an die Straßen von Damaskus und wie sie sich immer weiter verflüchtigen. Es geht um Träume und Ängste. Ängste vor Regen und Ängste um Vanessa. Es geht um seine Mutter, die er seit neun Jahren nicht gesehen hat und um die nicht immer leichte Beziehung zu seinem Vater. Katlesh ist Lyriker und lässt seine Gedichte in seine Briefe an seine Frau einfließen – er verbindet hier Formen von Texten und Ausdruck und bereichert die Briefe so um schwer zu vermittelnde Gefühlsebenen.
Der Austausch der beiden Liebenden ist voller Tiefe. Sie beschäftigen sich mit einer unglaublichen Bandbreite von Themen und Empfindungen. Mal schreiben sie über Banalitäten, mal sind ihre Briefe voller Schwere. Das Paar schreibt darüber, was sie eint und was sie trennt, zeigt, wie sie einander verstehen lernen und sie schreiben darüber, was das Erinnern, Vergessen und Suchen nach Zugehörigkeit für sie beide bedeutet.
Vu und Katlesh schreiben über Politisches und Zwischenmenschliches in einer Sprache, die berührt und ganz sanft zum Nachdenken über Resilienz, Vergebung und Menschlichkeit anregt. Sie wählen ihre Worte füreinander zaghaft, aber nicht vor Schmerz zurückschreckend. Jeder einzelne ihrer Briefe ist aufmerksam, warm und voller Gefühl.
Grafik: Sara Wolkers
Foto: Privat
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