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  • Mein innerer Kant

    Muss ich ins Ausland reisen, um ein vollendeter Mensch zu sein? Kolumnist Eric über das Gefühl, ein Urlaubsdefizit zu haben.

    Es wird kälter. Der Weg zur Uni beginnt oft schon im Dunkeln und endet auch dort. Bei gelegentlichen Spaziergängen erwische ich Erwachsene dabei, wie sie mit ihren Kindern glücklich Kastanien sammeln. Mein Teekonsum steigt mal wieder exponentiell an. Im Supermarkt türmen sich Kürbisse neben Lebkuchen und die ersten Adventskalender warten darauf, gekauft zu werden. Für diejenigen, die es noch nicht mitbekommen haben: Es ist Herbst.  

    Ich mag diese Jahreszeit und beobachte gerne, wie die Welt sich langsam für die Vorweihnachtszeit einstellt. Ich erfreue mich an dem neuen, bunten Look der Laubbäume. Und vor allem muss ich jetzt kein schlechtes Gewissen mehr haben, wenn ich um 20 Uhr meinen Fernseher anschalte. Macht man das nicht so im Herbst? Andererseits ist diese Jahreszeit für mich persönlich mit einem ersten Resümee der vergangenen Monate verbunden. Habe ich neue Menschen kennengelernt? Was habe ich Neues gelernt? Welche Herausforderungen habe ich gemeistert? Doch letztlich drehen sich die Fragen darum, wo ich eigentlich war. Was habe ich in diesem Jahr bisher erlebt, welche bisher unbekannten Orte gesehen? Die Antwort lautet meist: Ich müsste mal dringend weg.  

    Reiselust  

    Freitagabend. Ich bin in einer Buchhandlung und stehe vor dem Regal mit den Reiseführern. Oder besser gesagt; Ich stehe vor den Regalen mit den Reiseführern und mich lächeln unzählige (100? 400? 1000?) Bilder von den Stränden Siziliens, den grünen Wiesen Irlands oder gigantischen Gebirgsketten der Alpen an. Büchlein über Millionenstädte wie London, Paris oder Madrid versprechen mir die neuesten Insidertipps. Und alle diese Bilder hinterlassen bei mir das Gefühl: Pack‘ endlich deine Koffer! Oder möchtest du weiter Wurzeln schlagen? 

    Doch für dieses Gefühl brauche ich nicht mal in eine Buchhandlung zu gehen, noch einen Abstecher in das nächstbeste Büro eines Reiseunternehmens machen. Es reicht ein Blick in die glänzende Filterwelt von Instagram, wenn auf mehr als der Hälfte der Accounts, denen ich folge, irgendwelche Reisebilder gepostet werden. Von Norwegen bis Neuseeland, von Kenia bis Kroatien: Die sozialen Medien spülen mir die Welt entgegen – nur selbst habe ich davon noch nicht viel gesehen.  

    Das Reisen gehört zum guten Ton einer freien Welt. 2023 haben insgesamt rund 55 Millionen Personen aus Deutschland eine Urlaubsreise von mindestens fünf Tagen unternommen. 37 Prozent der Deutschen verbrachten dabei ihren Haupturlaub in Deutschland. Im internationalen Vergleich ist Deutschland eines der Länder mit den höchsten Tourismusausgaben, nur China und die USA haben höhere. Deshalb ist es auch natürlich, dass das Reisen ein beliebtes Gesprächsthema ist. Na, wie war es in Spanien? Wo geht es als nächstes hin? Ah, du machst eine Südamerika-Rundreise? Ja, also für mich geht es nächste Woche nach Venedig… Australien als Vorspeise, Skandinavien als Hauptgang, Frankreich als Nachtisch: Man bediene sich am Urlaubsmenü!  

    Wer mich danach fragt, welche tollen Orte ich außerhalb von Deutschland bisher bereist habe, kann von mir keine ausführliche Liste erwarten. Meine Auslandserfahrungen beschränken sich auf Belgien, Österreich und –  wenn man den Besuch bei einem Einkaufsmarkt 50 Meter hinter der deutschen Grenze dazuzählt – auch Polen. Die meisten Familienurlaube meiner Kindheit beschränken sich auf Bayern oder die Ostsee. Mein noch nicht mal einjähriger Neffe hat in seinem noch kurzen Leben schon mehr Flugkilometer zurückgelegt, als ich selbst – denn ich bin schlicht noch nie geflogen. Waren die Urlaube deshalb weniger schön? Nein, ich habe sie geliebt. Zumal ich mich noch zu dem privilegierten Teil der Bevölkerung zähle. Denn zur Wahrheit gehört auch, dass das Reisen für viele keine Selbstverständlichkeit darstellt. In Deutschland konnte sich 2023 jede fünfte Personen keine einwöchige Urlaubreise leisten. 

    Deshalb verbittet es sich eigentlich, über fehlende Auslandserfahrungen zu jammern. Und doch habe ich oft das Gefühl, dass meine Biografie ein Defizit aufweist. Denn man braucht schließlich den Auslandsurlaub für ein vollendetes Leben, oder? 

    Reisefrust  

    Die Erwartungen an das Reisen können sehr groß sein. Wird dadurch nicht mein persönlicher Horizont erweitert? Für die Philosophin Agnes Callard  ist eher das Gegenteil der Fall. In einem Artikel schreibt sie vom „Selbstbetrug des Reisenden“. Ein Urlaub sei nicht dasselbe, wie in ein fremdes Land zu immigrieren oder sich an einer Uni einzuschreiben. In diesen Fällen würde man mit der vorsichtigen Angst eines Menschen aufbrechen, der nicht weiß, wer er sein wird, wenn er auf der anderen Seite des Tunnels wieder rauskommt. Eine reisende Person mache sich hingegen mit der Gewissheit auf den Weg, dass sie mit denselben Interessen, Überzeugungen und Lebensumständen zurückkehren wird. Reisen sei demnach ein Bumerang. Es lasse uns genau dort zurück, wo wir angefangen haben. 

    Ich kann diese Einschätzung weder bestätigen noch ihr widersprechen: Dafür war die Zeit, in der ich reisen war, bisher zu kurz. In meinen Belgienurlaub ging ich erst gar nicht mit der Erwartung, ein völlig neuer Mensch zu werden. Fünf Tage sind dafür viel zu kurz, ein Auslandssemester wäre in diesem Fall sicher etwas anderes. Doch auch so stelle ich mir die Persönlichkeitsentwicklung im klassischen zweiwöchigen Urlaub eher schwer vor. Denn als Tourist*in macht man halt das, was ein*e Tourist*in so macht. In meinem besagten Belgientrip endete dies damit, dass ich mich plötzlich in einem Kunstmuseum widerfand  und Werke von Jeroen Bosch oder Peter Paul Rubens betrachtete, penetrant darauf achtend, dass ich auch wirklich interessiert wirke. Besucht man in Gent schließlich nicht das Museum voor Schone Kunsten? Und muss man in Belgien nicht mindestens einmal eine „original“ belgische Waffel essen? Kleiner Spoiler: Die belgische Waffel, die ich verköstigte, schmeckte ehrlich gesagt auch nicht wirklich anders als die Waffel aus dem Supermarkt. Aber hey, ich habe in Belgien eine belgische Waffel gegessen. Der nächste Haken auf meiner To-do-Liste konnte gesetzt werden.  

    Portraitfoto des Autors. Im Hintergrund das Museum aan de Stroom in Belgien.

    Im Hintergrund eines der vielen Museen, die ich in Belgien besucht habe. Foto: privat

    Man kommt an einen Ort, tut Dinge, die man im normalen Alltag vielleicht nicht machen würde (zum Beispiel planlos durch eine Stadt laufen), macht ein paar tolle Fotos und haut wieder ab. Zurück kommt der gleiche Mensch, nur mit ein paar Fotos und Souvenirs mehr im Gepäck. Ach ja: Und man kann dem nicht-reisenden Volk noch erzählen, wie toll das Erlebte war und das man das Gesehene auch unbedingt gesehen haben muss.  

    Zugegeben: Das Bild ist vielleicht etwas drastisch gezeichnet. Doch manchmal frage ich mich wirklich, ob die Welt auch noch ein Foto von mir vor der Londoner Tower Bridge braucht. Und doch weiß ich, dass ich irgendwann nach London reisen werde um das gleiche zu machen, wie unzählige Menschen vor mir.  

    Es macht ja auch irgendwie Spaß, sich in einer neuen Umgebung wiederzufinden. Ich selbst habe noch viele Reisträume, die ich mir irgendwann gerne einmal erfüllen möchte. Doch ich übe mich darin, meine Erwartungshaltung an das Reisen herunterzuschrauben. Ein Auslandsurlaub wird höchstwahrscheinlich nicht zu der großen „Persönlichkeitsentwicklung“ führen. Man kann mit einer Reise jedoch dem Leben ein Gefühl von Dynamik geben, ein Gefühl, dass man nicht stehen bleibt. Und vor allem kann man im späteren Lebensverlauf sagen, was man schon alles gesehen hat. Wie prägend die Reise letztlich war, können ja die anderen nicht beurteilen – denn schließlich erzählen wir unsere Geschichte.   

    Doch bevor ich das Reisen lerne, sollte ich mich wohl eher darin üben, wie man entspannt. War es das letzte Mal vor dem Abitur, dass ich im Urlaub mal rein gar nichts „Berufliches“ gemacht habe? Dass ich mal sagen kann: Ich habe Freizeitstress? Es ist auf jeden Fall schon länger her. Selbst in meinem Belgienkurzurlaub (fünf Tage, meine erste und bisher einzige Auslandsreise alleine) habe ich parallel Artikel redigiert oder schon das neue Semester vorbereitet. Wenn ich auf das kommende Jahr blicke, weiß ich, dass für mich wohl eher kein richtiger Urlaub rausspringen wird, zu eng wird meine Zeit getaktet sein. Meine nächste Auslanderfahrung lässt deshalb noch ein wenig auf sich warten. Tröstlich ist dabei der Gedanke, dass ich mit dieser Situation nicht alleine bin und ich mich zu sehr von Bildern anderer beeinflussen lasse. Und schließlich soll es ja auch Personen wie Immanuel Kant gegeben haben, die einen Ort nur selten verlassen haben. Mein innerer Kant und ich – wir werden sicherlich auch noch Freunde.  

     

    Titelbild von beasternchen auf Pixabay

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