French and Frazzled
…ist für Autorin Lene das Motto dieses Herbstes. Von romantischen Boulangeries in Lyon und einem Social-Media-Trend, dem tatsächlich etwas abzugewinnen ist.
„Une baguette traditionelle, s’il vous plaît“, sage ich und zeige auf den Korb mit den goldbraunen Baguettes. Der Verkäufer der kleinen Boulangerie in meinem Haus nickt, lächelt und greift nach dem riesigen Brot. Ich zahle. Das Baguette ist noch warm, als ich es in die Hand nehme und duftet nach Butter und Gemütlichkeit. Ich trete vor die Tür. Sonnenstrahlen scheinen durch die vom Herbst gelb-rot gefärbten Baumkronen, tauchen die Straße in ein mildes, schimmerndes Orange. Die Luft ist kalt und klar, ab und zu ein kleiner Windstoß. Ich grinse, atme tief ein, sauge so viel Herbstluft wie ich nur kann ein und mache mich auf den Weg zu meiner Lieblings-Fromagerie. Filmreifer Sonntagmorgen.
Der Herbst in Frankreich übertreibt es schon fast mit seinem Romantischsein. Auf den Märkten werden Kürbisse, Pastinaken, Pflaumen und Feigen verkauft, aus jeder Boulangerie duftet es herrlich nach Zimt und Butter und die Menschen, die an der Rhône und der Saône ihre Herbstspaziergänge machen, haben Farbpalette und Schnitte ihrer Kleidung an die Jahreszeit angepasst – sind unheimlich stylisch dabei. Herbstmode. Das ist in meiner kleinen Blase in den sozialen Medien gerade ein ganz großes Ding. Und dabei vor allem eine ganz bestimmte Ästhetik, die auch viele Französ*innen verfolgen.
Der Sommer 2024 war der Brat-Summer. Der Begriff wurde von der Musikerin Charly XCX geprägt. Neongrün – die Farbe ihres Albumscovers – war die Farbe der Stunde. Und nun ist Herbst und das bedeutet, es braucht eine neue Trendästhetik. Frazzled English Woman – eine etwas zerstreute englische Frau, das will man im Herbst 2024 sein. Und ich glaube es kaum, das zu schreiben. Aber ich bin es. Vielleicht nicht English, sondern French. (Und nein, das ist nach zwei Monaten Auslandssemester in Frankreich mit Sicherheit nicht übertrieben oder anmaßend.) Die Frazzled English/French Woman-Ästhetik ist vor allem eins: romantisch. Es geht um warme und gemütliche Kleidung aus Strick, um Handstulpen und bunte Strumpfhosen, verträumte Blusen, verspielte Westen, Schmuck und Lederstiefel. Eine Frazzled English/French Woman ist laut dem Internettrend meistens mit einem Kaffeebecher in der Hand unterwegs, etwas zu spät und hat ein Buch in ihrer Vintage- Ledertasche. Die Filme, auf die sich berufen wird, sind eher kitschige Filmklassiker aus den 2000er- Jahren wie „Notting Hill“, „Love actually“ oder „Bridget Jones“.
Soziale Medien sind überflutet von Trends wie diesem. Alles ist eine Era, Woche um Woche ist ein neues Internetphänomen, ein neuer Hype da und wenn man bei all den Eras und Ästhetiken mitkommen wollen würde, müsste man sich jede Woche eine neue Garderobe zulegen. Die Schnelllebigkeit und vor allem der Druck, zu konsumieren, um mithalten zu können, sind sicher ein Problem. Dass jede Trend-Ästhetik eine neue Schublade öffnet, in die man reinschlüpfen soll, ist ebenfalls Nonsens.
Doch das Wundervolle an genau dieser Ästhetik: Es geht um Romantik, Wärme und Gemütlichkeit. Und das haben das Lebensgefühl der Frazzled English Woman und la vie en France gemeinsam – sich das Leben zu romantisieren, spielt eine unheimlich große Rolle. Es geht dabei nicht um Perfektion, nicht um die beste Lösung, die praktischste Kleidung oder die, die am besten sitzt, nicht um die am besten strukturierte Routine. Es geht um den Moment. Darum, verträumt und mit dem Kopf ein bisschen in den grauen Herbstwolken zu hängen und dabei Croissants zu essen, heißen Tee, der nach Vanille duftet, zu trinken.
Es geht ein bisschen um das Leben, das einer der wichtigsten Vertreter der romantischen Literatur im 19. Jahrhundert, Joseph von Eichendorff, in „Aus dem Leben eines Taugenichts“ beschreibt – sich treiben zu lassen, vermeintlich sinnlose Dinge zu tun und zu zelebrieren, ein bisschen in den Tag hineinzuleben. Es geht um Emotionalität und Wohlbefinden statt Perfektion. Es geht darum, sich alles mit etwas Kerzenlicht, Wollsocken, gemusterten Blusen und verwuselten hochgesteckten Haaren muckelig zu machen.
Es braucht Romantik und ein bisschen Taugenichts-Dasein im Leben. Ich bin verliebt in diese Muckeligkeit und überzeugt von der magischen Wirkung des Dufts von butterweichem Baguette und Kaffee am Morgen. Es ist Herbst. Und dieser ist French und Frazzled.
Fotos: Hannah Marlene Göschel
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