Zwischen Würgereiz und Male Gaze
Im neuen Polit-Horror-Film The Substance treibt Coralie Fargeat die Zuschauenden an den Rand des Aushaltbaren. Im Fokus: Schönheitsideal und Altersdiskriminierung.
Du willst mal kurz vergessen, dass der Semesterstart jetzt schon nervt? Für einen Moment die Alltagssorgen hinter dir lassen? Mal rausgerissen werden? Und das mit 100 Prozent Garantie? Dann lass The Substance auf dich wirken. Oder in dir. Denn so viel kann ich von mir zumindest verraten: Einen Film, der so durch den Magen ging, habe ich noch nicht erlebt.
Coralie Fargeats zweiter Spielfilm erschafft in 141 Minuten einen geschmeidig-kantigen Albtraum. Demi Moore als „Elisabeth Sparkle“ und Margaret Qualley als „Sue“ gehen präzise und stark in ihren Hauptrollen auf. Dabei lassen sie die sexistisch-männliche Hauptrolle „Harvey“, gespielt von Dennis Quaid, trotz guter Leistung, in den Hintergrund treten. Und wer bei „Harvey“ an „Weinstein“ denkt, ist auf einer guten Spur, wohin der Film mit uns möchte.
Als französisch-britisch-US-amerikanische Produktion liefert Fargeat hier ein weiteres Beispiel für einen hochwertigen Genre-Film mit europäischer Regisseurin. Vielleicht ein kleiner Hint an die deutsche Produktionslandschaft, dass es nicht nur Komödien, Dramen und Historienfilme gibt. Interessant für einige ist vielleicht die Besetzung hinter der Kamera mit Benjamin Kračun, der für die Cinematographie von Promising Young Woman (2020, R: Emerald Fennell) verantwortlich ist.
Der Plot
Fargeat erzählt im Style einer Black Mirror-Folge ein fiktiv-dystopisches Gedankenexperiment im real-dystopischen Patriarchat. Elisabeth, eine ehemals erfolgreiche Filmschauspielerin, wird zum 50. Geburtstag bei ihrer Aerobic-TV-Show von ihrem Chef Harvey gekündigt, weil sie zu alt sei. Per Zufall bekommt sie die Möglichkeit, The Substance zu bestellen. Dabei handelt es sich um ein Produkt, welches aus dem eigenen Körper einen zweiten abspaltet. Dieser entspricht dem aktuellen Schönheitsideal aus stereotyp-männlicher Perspektive. Die Userin der Substanz kann dann in den Körper hineinschlüpfen. Allerdings muss alle sieben Tage wieder in den Originalkörper gewechselt werden. Wird dieser Abstand nicht eingehalten, leidet der jeweils andere Körper. Elisabeth lässt sich darauf ein und erschafft „Sue“, mit deren Aussehen sie ihren alten Show-Posten zurückerhält. Allerdings entwickeln sich beide Versionen Elisabeths immer stärker auseinander und vergessen, dass sie zusammengehören. Der daraus entstehende Konflikt zwischen den Elisabeths eskaliert mit monströsen Konsequenzen.
Was sollte ich vor dem Filmerlebnis vielleicht beachten?
Wer rohe Gewalt, Fleisch und Blut, verschobene Knochen, Selbstverletzung und stroboskop-artige Schnittsequenzen nicht als Vergnügen in sein Freizeit-Programm einbauen kann oder will, sollte vor dem Film vielleicht die eigenen Mentalressourcen nochmal checken. Ich betrat das Kino ohne weitere Vorbereitung und erlebte mehrere Stellen, an denen ich den Saal am liebsten verlassen hätte.
Meine bewertenden Eindrücke in drei Punkten:
- Starke audio-visuelle Qualität:
The Substance kreiert eine unheimlich vielfältige sowie originelle Umsetzung der Ideen und Assoziationen des Body-Horror-Genres. Fargeat und ihr Team lassen ihren ungehemmten Brutalitätsfantasien freien Lauf. Eine Rückengeburt, die die Buckelfläche der Körperhaut zerreißt und ein schleimig-blutverströmtes Menschenbündel auf den Badezimmerboden klatschen lässt, gehört da noch zu den harmloseren Fingerübungen, mit denen sich die Regisseurin aufwärmt. Besonders gegen Ende steigern sich die Verstümmelungen oder Verunstaltungen des Körpers hin zu einem dekonstruierenden Maß. Wer noch immer glauben sollte, beim Wettrennen um die ärgste Brutalität im Film würden nur Regisseure mitlaufen, kann das nach The Substance endgültig abhaken. Darüber hinaus schaffen es die repetitiv gezeigten Male-Gaze-Aufnahmen in Kombination mit dem gesellschaftlichen Druck, der auf Elisabeth lastet, alltägliches Schönheitsempfinden mit systematischen Unterdrückungsstrukturen in Verbindung zu setzen. Absurde Einstreuungen machen dabei hin und wieder den Weg für ein bitteres Lachen frei. Die Länge von 141 Minuten fühlte sich in Anbetracht des Tempos und der Vielfalt der Bilder nicht unangenehm an.
Insgesamt kann ich ohne weitere akademische Umschweife nur betonen: The Substance ist eine wahnsinnige Erfahrung, die mich zugleich abgestumpft und sensibilisiert zurückließ.
- Hinweise darauf, ob der Film deinen Geschmack trifft:
In dieser Horrorsatire spiegeln sich kaleidoskopartig diverse Werke der neueren Filmgeschichte wider. Mal erinnert Elisabeth an Gollum, in der Art, wie sie sich nach Schönheit verzehrt und apathisch-gekrümmt ihren Kopf auf den Boden der Duschkabine schlägt. Dann wiederrum ließ mich der Kampf zwischen den beiden „Elisabeths“ an Fight Club (1998, R: David Fincher) denken: Eine vermeintlich ideale bzw. gesellschaftlich erwünschte Version eines Selbst beginnt das normale „Selbst“ zu bekämpfen. Der bereits erwähnte „Black Mirror“-Stil (Zeppotron, seit 2011) des Films sorgt dafür, schnell formulierte Alltags-Wünsche vielleicht doch noch mal kritisch zu hinterfragen. Für das Critical-male-gaze-Seminar würde sich ein Vergleich zwischen Promising Young Women, Potrait of a Lady on Fire (2019; R: Céline Sciamma) und The Substance mehr als lohnen. Und auch Fans von Requiem for a dream (2000; R: Darren Aronofsky) dürften hier mit den Bezügen zum beklemmenden Substanz-Sucht-Setting auf ihre Kosten kommen. Darüber hinaus erinnerte die groteske Steigerung gegen Ende an Werke wie Raw (2016, R: Julia Ducournau) oder Titanes (2021, R: Julia Ducournau). Durcournau, Fargeat und Sciamma haben übrigens alle drei an der renommierten Pariser Filmhochschule La fémis studiert.
Diese Assoziationskette lässt sicherlich noch Platz für weitere Werke. Zu keinem Zeitpunkt allerdings fühlen sich diese Verbindungen wie billige Kopien an. Vielmehr liefert die Regisseurin hier ein unter die Haut gehendes Original, auch wenn das filmklassische Musikstück Also sprach Zarathustra von Richard Strauß (u.a. bekannt aus 2001: Space Odyssey) natürlich nicht fehlen darf.
- Solide Gesellschaftskritik mit Abstrichen:
Im Gespräch mit befreundeten FLINTA Personen blieben die Eindrücke relativ nah beieinander. Alissa Wilkinson von der New York Times trifft dabei den Kern unserer Gespräche: „The movie is, appropriately enough, a mirror, and our discomfort reveals our own hidden biases and fears about ourselves. Being older, being famous, being seen, being loved, being usurped by someone younger and hotter – it’s all here.” Was bei Wilkinson mit einer nachvollziehbar positiven Note formuliert wurde, schwang bei uns tendenziell in die andere Richtung. Sagen wir so: Wer auf der Suche nach bahnbrechend neuen feministischen Diskursbeiträgen ist, könnte bei The Substance vielleicht nicht an der richtigen Stelle sein. Damit soll nicht gesagt werden, dass die formulierte Kritik schwer nachvollziehbar, falsch oder überholt sei. Fargeat und ihr Team illustrieren hervorragend die patriarchalen Konstrukte, die das Stereotyp das Schönheitsideals materialisieren. Besonders der Altersdiskriminierung von FLINTA Personen wird hier sehr viel Raum gegeben.
Richtig in die Tiefe geht es dann aber doch nicht. Zum Thema „pretty privilege“ ist die Stellung des Filmes eher konservativ. Die Körperveränderung durch The Substance, insofern sie als Schönheitschirurgie gedeutet wird, kommt hier unterm Strich nicht gut weg. Anstatt ihr Alter (und somit ihre Kündigung) zu akzeptieren, lässt sich Elisabeth auf die Substanz ein. Zwar werden die offensichtlichen Vorteile der neu gewonnenen Schönheit benannt: Sie bekommt ihren Job zurück, wird ein größerer Star als je zuvor, kann sich viele knackige Boys gönnen, … – werden jedoch in Gut-Böse-Manier den Kosten gegenübergestellt. Elisabeth verliert nicht nur die Kontrolle über ihr Verhalten, sondern zerstört auch ihren Körper.
Die Moral also: „Iss nicht von den verbotenen Früchten“. Das alles erinnert an eine typische Drogenkritik, die auf Schönheitsoperationen bezogen so allgemein wie oberflächlich daherkommt. Denn im kapitalistisch-männerdominierten System mit 50 aussortiert werden, muss sich niemand gefallen lassen, auch wenn sich die klassistischen Implikationen dieser medizinischen Praktiken, sowie deren Reproduktion eines heteronormativen Schönheitsideals, durchaus diskutieren lassen. Abschließend blieb bei uns auch die Frage offen, ob es die gewaltige und teils verstörende Darstellung gebraucht hätte, um die Botschaft des Filmes authentisch zu erzählen.
Nichtsdestotrotz ist The Substance vielleicht auch weniger als Versuch einer bahnbrechend neuen feministischen Kritik wahrzunehmen. Vielmehr könnte es eine willkommene Gelegenheit für Fargeat gewesen sein, bekannten feministischen Diskurspositionen Raum zu geben, während sie in erster Linie einen Body-Horror auf die Leinwand zimmern wollte, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat.
Fazit
Mit The Substance etabliert sich Coralie Fargeat endgültig als eine solide Säule der Spielfilmwelt. Sowohl Horror-Connoiseur*innen, als auch politisch progressiv gepolte Menschen finden hier ein Kunstwerk vor, das definitiv für Gesprächsstoff sorgen wird. Hauptproblem am Film: Die Angst davor, ihn ein zweites Mal zu sehen.
Titelbild: MUBI (2024)
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