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  • „Kommunalpolitik ist ein Marathon”

    Christian Schulze hat 1989 die SPD Leipzig mitgegründet und setzt sich seitdem für die Stadt ein. Für luhze blickt er auf 34 Jahre Kommunalpolitik zurück.

    Der ehemalige Stadtrat Christian Schulze, 61 Jahre alt, hat sich 34 Jahre ehrenamtlich für die Stadt Leipzig engagiert. 1989 hat er die SPD Leipzig mitgegründet und saß seitdem bis zu den diesjährigen Kommunalwahlen im Stadtrat. luhze-Redakteurin Laure Péan hat sich mit ihm im Seniorenzentrum von Delitzsch, das er seit 26 Jahren hauptberuflich leitet, getroffen. Zusammen haben sie über sein Engagement und die Entwicklungen im Stadtrat gesprochen, von der Wiedervereinigung bis heute.

    luhze: Sie sind in der DDR, in Ost-Berlin, aufgewachsen. Was hat Sie zur Politik gebracht?

    Christian Schulze: Ich bin in einem evangelischen Pfarrhaus groß geworden. Dadurch war man in der DDR per se politisiert: Allein der Beruf des Pfarrers war schon Opposition, denn die Kirche war keine Staatskirche, sondern Kirche im Sozialismus. Damit gingen bestimmte Einschränkungen einher: Ich war nicht in der Freien Deutschen Jugend, habe keine Jugendweihe gemacht und durfte als Pfarrerssohn zum Beispiel auch nicht zum Gymnasium. Aber man hat sich dadurch in der Gemeinde sehr viel über Politik ausgetauscht, über Frieden, Umweltthemen, die aktuelle Situation der DDR… Nach Leipzig bin ich dann gezogen, um Theologie zu studieren, denn ich wollte damals auch Pfarrer werden.

    Haben Sie also die Friedliche Revolution von Leipzig aus erlebt?

    Genau. Nach zweieinhalb Jahre habe ich das Studium beendet, bin aber in Leipzig geblieben. Ich habe dort im Mai 1989 bei den Kommunalwahlen Wahlbeobachtung gemacht: In der ganzen Stadt Leipzig waren in vielen Wahllokalen unabhängige Wahlbeobachter aus in der Regel kirchlichen Oppositionskreisen. Vor Ort wurden dann die von den Wahlvorständen angesagten Ergebnisse aufgeschrieben und die gesamten Ergebnisse der Stadt Leipzig zusammengeführt. Die Zahlen aus den Wahllokalen waren ganz anders, als die dann in der Zeitung veröffentlichten Zahlen, sodass wir dann wussten, dass Wahlbetrug stattgefunden hatte. Das Ganze passierte in vielen Städten in der DDR. Und das hat was ausgelöst für die Menschen, viele wollten sich engagieren und wir haben schnell festgestellt, dass wir klare Strukturen brauchen.

    Wie sind Sie dazu gekommen, die SPD Leipzig zu gründen?

    Für mich war klar, auch wenn ich christlich bin, dass eine sozialdemokratische Partei mir viel näher war als die Konservativen. In meiner Kindheit und Jugend gab es die wichtigen Bundeskanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt. Die Entspannungspolitik von Willy Brandt und weitere Politiker der West-SPD (Egon Bahr, Herbert Wehner…) waren offenbar prägend für mich. Dadurch war es für mich nicht vorstellbar, in die CDU einzutreten, die ganz ungeniert die Ost-CDU, die ja 40 Jahre mit der SED unterwegs war, übernommen hat. Es ging vielen anderen auch so. Hinzu kam, dass die SPD eine völlig unverbrauchte Kraft war: Es gab schon die Ost-CDU, eine liberale und eine nationaldemokratische Partei, eine Ost-SPD jedoch noch nicht. So haben wir mit Freunden und Bekannten die sozialdemokratische Partei gegründet (SDP), die am 7. Oktober 1989 DDR-weit gegründet wurde. Wir haben uns ganz bewusst am Anfang nicht SPD genannt, sondern SDP, um von vornherein zu vermitteln, dass wir nicht ein Anhängsel der West-SPD sind, sondern eine eigene sozialdemokratische Kraft in der DDR, die sich aus dieser Umklammerung der SED befreit. Die Vereinigung zwischen Ost-SPD und West-SPD hat dann im September 1990 in Berlin stattgefunden.

    Wie würden Sie im Nachhinein den Erfolg Ihrer Partei einschätzen?

    Im Großen und Ganzen glaube ich, dass in der DDR damals viele nichts mehr vom Sozialismus hören wollten, auch wenn wir von „demokratischem Sozialismus“ sprachen. Es war sicherlich eine Umbruchssituation für die Ostdeutschen, alles wurde vom Westen übernommen, sehr wenige Dinge sind übriggeblieben, auch die, die ganz gut waren. Aber es war trotzdem so, dass die Menschen so schnell wie möglich westdeutsche Lebensverhältnisse wollten und Helmut Kohl, 1990 der Kanzlerkandidat der CDU, hat denen das alles gegeben. Deshalb hat die CDU die Wahlen so erfolgreich gewonnen: Kohl hatte damals ganz toll gemerkt, die Menschen in der DDR wollen Bananen und all das, was man in Fernsehwerbungen sehen konnte. Auf der anderen Seite, Oskar Lafontaine, der SPD-Kandidat, war einfach ehrlich und hat genau das gesagt, was dann auch gekommen ist. Aber keiner wollte das wissen. Deshalb haben wir es als SPD nicht hingekriegt, bis 1998 mit Gerhard Schröder einen Kanzler zu stellen.

    Sie waren 34 Jahre lang Stadtrat in Leipzig. Was hat sie motiviert, so lange zu bleiben?

    Andere gehen in Fußballvereine oder sind im Kleingartenverein im Vorstand und engagieren sich über viele Jahre. Bei mir ergab sich das mit der Kommunalpolitik: Mir wurde 1990 gesagt, du hast die Partei mitgegründet, jetzt musst du auch in den Stadtrat. Das habe ich gemacht. Ich bin dann in verantwortungsvolle Positionen gekommen, in die Arbeitsgremien, Aufsichtsräte und Ausschüsse, wo die eigentliche Arbeit stattfindet und man das Gefühl bekommen hat, Dinge voranbringen zu können. Die Möglichkeit, etwas Sinnvolles zu machen, für die Stadt und die Menschen in dieser Stadt: Das hat mich immer wieder angetrieben.

    Kommunalpolitik beruht ja auf dem ehrenamtlichen Engagement der Stadträt*innen. Haben Sie aber schonmal überlegt, in die Berufspolitik zu wechseln?

    Ich habe schon 1990 für mich klargerückt, dass ich nicht in die Berufspolitik gehen möchte. Ich wollte nicht von einem Mandat und von dem Geld der Politik abhängig sein. Es ist bei Berufspolitikern so: Schon nach der Hälfte der Wahlperiode müssen sie sich ganz intensiv darum kümmern, dass sie wiedergewählt werden, dass sie innerhalb der Partei wieder aufgestellt werden und einen guten Listenplatz kriegen. Das hatte ich für mich ausgeschlossen. Außerdem wollte ich aus der beruflichen Entwicklung nicht raus: Da hatte ich natürlich großes Glück, dass es mit meinem Arbeitgeber, die Arbeiterwohlfahrt, gut geklappt hat. Sie waren immer der Meinung, dass engagierte Leute gebraucht werden, und haben es immer mitgetragen, auch wenn ich manchmal einen ganzen Tag ehrenamtlich unterwegs war.

    Was war aus Ihrer Sicht die beste Zeit im Leipziger Stadtrat?

    Die ersten Jahre nach der friedlichen Revolution waren wirklich toll. Die Arbeit war noch sehr geprägt vom Aufbauwillen, vom Erneuern, es wurden große und wichtige Entscheidungen getroffen: neues Messegelände, Citytunnel, Hauptbahnhofumbau… Damals wurde sich wirklich über Parteigrenzen hinweg gefunden, um Lösungen zu finden, eben unabhängig von der Parteizugehörigkeit. Das ist auch etwas, was mir an der Kommunalpolitik immer gefallen hat: Im Gegensatz zu bezahlter Politik hat man keine Fraktionszwänge. Abweichende Meinungen über konkrete Sachen sind akzeptiert. Und gerade das hat sich meiner Meinung nach mit der Zeit verändert.

    Inwiefern?

    In den letzten zehn oder 15 Jahren ist immer mehr Parteipolitik reingeschwappt in die Arbeit, das ist nicht immer schön gewesen. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass 2014 die AfD in den Stadtrat kam. Zwar gab es davor schon zwei NPD-Stadträte und Vertreter der Deutschen Sozialen Union, aber die AfD hat das Klima wirklich vergiftet im Rat. Man musste plötzlich Reden ertragen und Dinge anhören, die nie zuvor gesagt wurden und von denen man sich nie hätte vorstellen können, dass sie gesagt werden dürften. Dass zum Beispiel Gleichstellungsbeauftragte, Seniorenbeauftragte oder Behindertenbeauftragte nicht mehr gebraucht werden, oder dass die Regenbogenfahne vor dem Rathaus nicht mehr hängen sollte, wie es aktuell einmal im Jahr der Fall ist… Solche komischen Anträge waren vorher undenkbar.

    Wie haben Sie in solchen Fällen gehandelt?

    Ich habe immer gesagt, dass gute Vorschläge, auch von anderen Parteien, immer von mir berücksichtigt werden. Aber die von der AfD nicht. Die Strategie, die alle verfolgt haben im Rat, war die der Ausgrenzung, sie so weit wie möglich von den Entscheidungen abzuhalten. Sie haben sich natürlich mit ihren Anträgen nicht durchsetzen können, aber auch bei allen restlichen Sachen, administrative oder Tagesordnungsdebatten haben wir sie nicht unterstützt. Sie haben auch keinen Bürgermeisterposten bekommen, auf den sie ja womöglich Anspruch gehabt hätten.

    Sind Sie der Meinung, jetzt rückblickend, diese Strategie der Ausgrenzung ist die richtige gewesen?

    Ja, die Frage ist tatsächlich berechtigt, die stelle ich mir selber. Im Nachgang, so wie ich die Entwicklung jetzt wahrnehme, weiß ich nicht, ob das immer der richtige Weg war, ob man nicht womöglich doch hätte im Gespräch sein müssen, vielleicht in kleineren Runden. Aber ich glaube auch, dass es ein Lernprozess ist, zu akzeptieren, dass es immer mehr Leute gibt, die die AfD wählen, so furchtbar es ist.

    Sie wurden bei den letzten Wahlen nicht gewählt. Wie fühlt es sich an, nach so langer Zeit nicht mehr im Stadtrat zu sitzen?

    Die Partei hat mich auf der Wahlkreis-Liste auf Platz 2 gestellt und auf Platz 1 eine jüngere Frau. Ich hatte am Anfang meine Not damit. Aber ich habe es irgendwann akzeptiert, der Stadtrat ist ja kein Erbhof. Ich bin dennoch davon überzeugt, dass es nicht daran lag, dass ich schlechte Arbeit gemacht hätte oder nicht geeignet dafür wäre. Sondern offenbar wollte man einer jüngeren Frau den Weg dahin ebnen, die Partei wollte die Fraktion etwas verjüngen.

    Was halten Sie davon?

    Eine Stadt entwickelt sich ja über tausende Jahre. Natürlich muss es immer wieder neue junge Leute geben, aber wenn irgendein Thema aufgerufen wird, ist es auch wichtig und hilfreich, wenn noch jemand dabei ist, der vor 20 Jahren die Entwicklung wahrgenommen hat und dazu aus eigener Erfahrung etwas sagen kann. Und da entstehen denke ich gerade teilweise Unwuchten. Nach 34 Jahren war ich viel in der Öffentlichkeit unterwegs, die Leute wussten, wo meine Telefonnummer zu finden ist und wo sie im Bedarfsfall Hilfe bekommen konnten. Das ist, glaube ich, für die Kommunalpolitik wichtig. Wie ich immer sage: Kommunalpolitik ist ein Marathon, keine Kurzstrecke.

    Titelbild: Laure Péan

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