„Wo können wir denn hier ein Haus kaufen?“
Der Verein Pödelwitz hat Zukunft will ein Grundstück in Pödelwitz erwerben und dort einen inklusiven Ort zum Wohnen, Arbeiten und gemeinschaftlichen Leben bauen.
An diesem letzten sogenannten Kuchensonntag des Jahres ist viel los in Pödelwitz. Etwa 80 bis 100 Menschen sind in das Dorf gekommen. Einige Besucher*innen scheinen die Umgebung auf eigene Faust zu besichtigen, sie spazieren die oft holprig gepflasterten Wege zwischen den Höfen entlang. Die Meisten tummeln sich allerdings vor dem zentralen Bürger*innenhaus in der Mitte des Ortes. Hier sind einige herbstlich dekorierte Bierbänke aufgebaut. Auf einem langen Tisch stehen etliche Kuchen, durch die die Besucher*innen sich durchprobieren können. Wer durstig ist, kann sich gegen eine Spende Limonade oder alkoholfreies Bier von der Palettenbar der Kneipö nehmen, die gleich daneben aufgebaut ist. In kleinen Grüppchen sind Menschen ins Gespräch vertieft, oder durchstöbern das Infomaterial, was im Inneren des Bürger*innenhauses ausliegt.
Direkt neben dem Platz beginnt kurze Zeit später der Dorfspaziergang, der von ganz verschiedenen Menschen geleitet wird. Wie in aktivistischen Kontexten der Klimabewegung oft üblich, stellen sie sich nur mit ihren Vornamen vor. Da ist Franzi, die in Pödelwitz aufgewachsen ist und die ganze Episode des Widerstands miterlebt hat. Chris, Lio, Sebastian und Kea sind Wahlpödelwitzer*innen und beleuchten jeweils unterschiedliche Aspekte des Dorfes.
„Pödelwitz ist ein Dorf auf einer Klippe“
Kea beginnt mit einem historischen Abriss der Geschichte des Ortes. Sie erzählt der großen Gruppe aus Zuhörenden, dass der Pödelwitzer Bach nur noch existieren würde, weil die Mitteldeutsche Braunkohlegesellschaft (Mibrag) das abgepumpte Trinkwasser in den Bach leite. Die ursprüngliche Quelle sei längst abgebaggert. Es sind so viele neugierige Menschen zusammengekommen, dass es Kea schwer fällt laut genug zu reden. Sie schlägt vor, dass alle noch ein bisschen enger zusammenrücken. „Das hilft auch gegen die Kälte.“ Die Erzählungen werden untermalt von vielen laminierten Bildern. Darauf ist zum Beispiel die Umgebung zu sehen, die hauptsächlich aus verschiedenen Kohlegruben besteht. „Pödelwitz ist ein Dorf auf einer Klippe“ erklärt Kea. Weiter geht der Dorfspaziergang über die Dorfwiese zum alten Gasthof von Pödelwitz.
Das zweistöckige Gebäude, in dem wohl auch mal ein Konsum untergebracht war, sieht von vorne noch einigermaßen intakt aus. Die beigen Wände werden von einem Spitzdach abgeschlossen, das auf der einen Seite durch grüne Folie abgesichert wird. Wie bei den anderen Häusern in Besitz der Mibrag hängt das Warnschild Privatgelände unübersehbar an der Fassade des Hauses. Daneben sind die für Pödelwitz typischen Gardinen in den Fenstern zu sehen, die wie in den meisten Häusern des Ortes den Eindruck vermitteln, als wäre es gestern noch bewohnt gewesen. Nähert man sich dem Haus allerdings von hinten wird das Ausmaß des Zerfalls sichtbar. Der ehemalige Gasthof ist eigentlich mehr ein Gerippe. Viel ist kaputt und eingestürzt und Weniges erinnert daran, dass hier mal ein sozialer Knotenpunkt des Dorfes war.
Der Verein Pödelwitz hat Zukunft will einen „Ort der kurzen Wege“ kreieren, erzählt Kea, kein reines „Schlafdorf“. Das hat mehrere Gründe. Neben dem sozialen Aspekt, der in vielen Dörfern heute fehlen würde, könnten wir uns eine „Ökonomie der langen Wege“ bald einfach nicht mehr leisten. Momentan sei Energie noch so massenhaft und billig verfügbar, dass viele Familien auf dem Land zwei Autos unterhalten könnten und lange Arbeits-, Schul- und Einkaufswege in Kauf nehmen. Dies sei aber kein Dauerzustand und schon gar keine realistische Zukunftsperspektive. Pödelwitz will deswegen zurück zu lokaler Infrastruktur, kurze Wege und Leben vor Ort seien die Devise. Während die Gruppe Kea aufmerksam zuhört, fährt das Auto der Mibrag-Security direkt an ihnen vorbei. Es wird heute noch mehrmals auftauchen, um nach dem Rechten zu sehen. Und erinnert die Menschen vor Ort daran, dass Pödelwitz fast vollständig im Besitz der Mibrag ist.
Bereits im Juli 2023 war luhze zu Besuch im kleinen Pödelwitz. Das Dorf südlich von Leipzig sollte für den Braunkohletagebau abgebaggert werden, wehrte sich allerdings erfolgreich gegen dieses Schicksal. Aufgrund des Drucks von einigen widerständischen Dorfbewohner*innen, von aktivistischen Klimacamps und der bundesweiten Vernetzung „Alle Dörfer bleiben!“ beschloss die Landesregierung Sachsen 2019 den Erhalt des Dorfes. 2021 bestätigte auch der Kohlekonzern Mibrag, dass Pödelwitz bleiben wird. Wie die Dorfbewohner*innen berichten, weigert sich das Unternehmen allerdings bis heute die Häuser und Höfe wieder zu verkaufen, weswegen 80 Prozent der Gebäude im Dorf leer stehen. Die 37 Pödelwitzer*innen wohnen in den restlichen acht Häusern in Privatbesitz oder in provisorischen Unterkünften. Sie organisieren sich in dem Verein Pödelwitz hat Zukunft und setzen sich für eine Wiederbelebung des Dorfes nach einem Modelldorfkonzept ein.
Bauen mit Material aus der Umgebung
Als nächstes werden die Besucher*innen auf das älteste Haus des Dorfes aufmerksam gemacht: Es handelt sich um ein kleines Fachwerkhaus aus dem Jahr 1699. Der spitze Giebel ist mit Holz verkleidet und auch sonst sei das Haus aus Materialien gebaut worden, die aus der Umgebung kämen, vor allem Stroh und Lehm. Die gleichen Materialien haben die Dorfbewohner*innen auch für den Bau des brandneuen Strohballenhauses genutzt – auch wenn die Bauart einem modernen Konzept folgt. Das Strohballenhaus steht im Projektgarten des Dorfes, der nächsten Station der Führung. Hier stehen ungewöhnliche Unterkünfte zwischen Bäumen und Büschen. Ein himmelblauer Bauwagen ist zu entdecken, aber auch ein kreisrundes Zelt mit einem kleinen Schornstein an der Seite. Bunte Farben und politische Transparente schmücken den Projektgarten. Ein Outdoor-Waschtisch steht am Wegrand. Auch eine überdachte Küche ist zu sehen. Das Strohballenhaus steht auf einer kleinen Anhöhe am Rand. Die Wände sind braun und glatt und eingearbeitete Strohhalme sind zu erkennen. Es gibt noch keine Tür und so lässt sich ins Innere spähen. Da ist allerdings außer einer frisch gebauten Wand und einem Baustrahler nichts zu entdecken. Kea erzählt, dass das ganze Haus biologisch abbaubar sei. Bis auf die Fenster, denn die seien aus Plastik – aber immerhin gebraucht. Außerdem habe das Strohballenhaus eine positive Klimabilanz, da es CO2 speichern würde.
Lio, die im Projektgarten wohnt, erzählt der Gruppe, dass immer wieder neugierige Menschen aus der Umgebung dem Projektgarten einen Besuch abstatten würden. Die häufigste Frage wäre dann: „Wo können wir denn hier ein Haus kaufen?“ Vom Projektgarten geht es in den Kirchhof von Pödelwitz. Von einer kleinen Mauer umgeben finden sich einige liebevoll gepflegte Gräber inmitten der Wiese. Die Kirche strahlt den Besucher*innen in ihrer gelben Farbe entgegen. Der kleine Kirchturm sieht fast zu groß aus für die noch kleinere Kirche – er ist auch auf dem Logo des bundesweiten Netzwerks Alle Dörfer bleiben! zu sehen. Durch eine kleine Holztür gelangt man ins Innere des Gotteshauses.
Hier trifft Baustellenflair auf die typische Eleganz und Feierlichkeit von Kirchen. Die hellgrauen Sitzbänke stehen unter einer Decke, die mit einem Muster aus Rechtecken in verschiedenen Grün- und Goldtönen geschmückt ist. Die Wände sind weiß verputzt, bis auf die unteren zwei Meter, die Naturstein zeigen. Das Licht fällt durch schlichte Buntglasfenster. Da, wo normalerweise der Altar ist, stehen verschiedene Baugeräte. Die Orgel sei zurzeit ausgebaut, erzählt Thilo, der Glöckner von Pödelwitz, der an dieser Station das Reden übernimmt. Sie befände sich in Dresden zur Restaurierung, finanziert durch Orgelpatenschaften, die innerhalb von 14 Tagen ausverkauft gewesen seien. Im Moment fänden wegen der Sanierung keine Gottesdienste statt, er hoffe aber, dass zu Weihnachten wieder damit begonnen werden könnte.
Bei der Sanierung würden auch viele Bewohner*innen des Dorfes helfen. „Wir sind irgendwann eins“, beschreibt Thilo die Dynamik des Dorfes und Lio bekräftigt, dass gerade das Pödelwitz so stark mache: viele verschiedene Menschen mit verschiedenen Ideen, die zusammenarbeiten und sich gegenseitig unterstützen würden. „Das geht nur zusammen.“ In die Kirche sollen im hinteren Teil eine Küche und eine Toilette eingebaut werden, damit sie besser für Veranstaltungen genutzt werden kann, die über einen Gottesdienst hinausgehen.
„Bei all unseren Ideen denken wir inklusiv“
Zuletzt versammelt sich die Gruppe noch vor dem Grundstück, auf dem in etwa fünf Jahren der Vielseithof stehen soll. Zu sehen ist nicht viel, zwischen dem Grün lässt sich ein flaches, weißes Gebäude erkennen, sowie eine freistehende Mauer. Die Gruppe soll Abstand halten, da das Grundstück im Moment noch bewohnt sei. Erst in zwei oder drei Wochen soll der Kauf abgewickelt werden. Natürlich hätten sie das Projekt lieber in einem der bestehenden Häuser umgesetzt, erzählt Sebastian, aber das ginge ja wegen der Mibrag nicht. Er erzählt, dass der Vielseithof ein inklusiver Ort werden soll, der von Menschen mit und ohne Behinderung genutzt und bewohnt werden kann, genauso wie alten Menschen. Teil des Vielseithof soll eine solidarische Landwirtschaft sein, aber auch ein Baubetrieb und eine Dorfkantine.
„Das betreute Wohnen ist in dem Modelldorfkonzept, das wir für das ganze Dorf haben, immer ein zentraler Teil gewesen. Bei all unseren Ideen denken wir inklusiv. Deswegen ist es nur konsequent, dass wir das auch als erstes umsetzen,“ meint Sebastian. Dabei sollen eben keine typischen Werkstätten für Menschen mit Behinderung entstehen, sondern alle Menschen sollen in den Alltag der Dorfgemeinschaft integriert werden und die Hofgemeinschaft soll Verantwortung füreinander übernehmen. Sebastian betont: „Einerseits haben wir mit diesem Grundstück die Chance zu zeigen, was überhaupt möglich ist. Andererseits wollen wir natürlich auch zeigen, dass wir hier bleiben können und wollen.“
Der Verein habe vier Monate gebraucht, um die Kaufsumme zusammen zu kriegen. Das sei in drei Schritten passiert, erzählt Sebastian. Zuerst hätten sie das eigene Vermögen gesammelt. Dann wurden Freund*innen und das nähere Umfeld gefragt. Zum Schluss habe der Verein dann noch die Crowdfunding-Kampagne gestartet. Etwas Geld würde aber noch fehlen. Lio macht bei den Besucher*innen Werbung für die Vergabe von Direktkrediten. Zurück am Bürger*innenhaus hängt sie sich ein großes Schild mit der Aufschrift Beratung zu Direktkrediten um.
Wer sich nicht beraten lässt, bedient sich nochmal am Kuchenbuffet oder stöbert vielleicht in dem Gib&Nimm-Raum des Vereins. Dieser öffnet sich hinter einem Rolltor an der Frontseite des Bürger*innenhauses und funktioniert wie eine Art Zu-verschenken-Kiste in groß. Dahinter befindet sich eine gemütliche Sitzecke, in der ein Sofa und verschiedene rot überzogene Sitzgelegenheiten zum Verweilen einladen. Sebastian wärmt sich seine Finger an einem Heißgetränk und erzählt, wie der Bau des Vielseithofs gestemmt werden soll: „Natürlich gibt es Arbeiten, die wir selber machen können. Zum Beispiel sind auf dem Grundstück noch einige Altlasten und es muss erstmal in einen Zustand gebracht werden, dass da gut gebaut werden kann. Es wird vielleicht auch Mitmachbaustellen geben. Aber für den Bau selbst holen wir uns dann professionelle Leute ran. Das müssen wir in Auftrag geben.“
Auf dem Platz vor dem Bürger*innenhaus neigt sich der Kuchensonntag langsam dem Ende zu. Die Besucher*innen verabschieden sich nach und nach. Übrig bleiben die Bewohner*innen des Dorfes, die anfangen aufzuräumen. Dabei wird gescherzt und gelacht – die Arbeit für heute ist getan.
Titelbild: Margarete Arendt
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