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  • Wundern über das Böse der anderen

    Die Holocaust-Überlebende Liliana Segre schreibt in ihrem autobiografischen Roman über ihr Leben zur Zeit des faschistischen Italiens, ihre Erfahrungen in Ausschwitz und die Jahre danach.

    Diesen November jährte sich die Reichsprogromnacht zum 86. Mal. Die Schrecken des Nationalsozialismus liegen fast ein Jahrhundert zurück und sind doch angesichts erstarkender rechtsextremer Kräfte aktueller denn je. September dieses Jahres erschien nun die Geschichte der italienischen Holocaust-Überlebenden Liliana Segre unter dem Titel „Erinnern macht frei. Das unterbrochene Leben eines Mädchens in der Shoah“ im Neofelis-Verlag. Das Buch entstand in Zusammenarbeit mit dem italienischen Journalisten Enrico Mentana, der die Erinnerungen auf Papier brachte.

    Liliana Segre wurde 1930 in eine jüdische Familie geboren. Ihre Mutter starb früh, so dass ihr Vater sich allein um die gemeinsame Tochter kümmerte. Durch die Einführung der Rassengesetze in Italien 1938 wird das Leben der damals achtjährigen stark eingeschränkt. Sie darf nicht mehr zur Schule gehen, und ihre Familie verlässt Mailand. Bei einem Fluchtversuch in die Schweiz, wo Schweizer Beamten Liliana und ihren Vater abweisen und zurück nach Italien schicken, werden sie an der Grenze von italienischen Faschisten verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Dort werden die beiden getrennt, wenige Wochen später stirbt Lilianas Vater. Sie selbst ist mittlerweile 13 Jahre alt und bleibt bis 1945 in Auschwitz. Nach den Todesmärschen 1944/45, bei denen die Nazis die Konzentrationslager nahe der Front räumen ließen und die Gefangenen zu Fuß in den Norden Deutschlands trieben, kommt Liliana frei und kehrt zurück nach Italien.

    Redakteurin Paulina Maerz beim Lesen.

    In der von Mentana verfassten Einleitung zum Buch führt er in die politische Situation und die Hintergründe des faschistischen Italiens des 20. Jahrhunderts ein. Unter Benito Mussolini beteiligte Italien sich an den Verbrechen der Deutschen und unterstütze Francisco Franco in Spanien. Faschistische Ideologien seien in der italienischen Gesellschaft stark verbreitet gewesen, auch unter jüdischen Menschen. Die Einführung der Rassengesetzte 1938 habe dann erstmals auch in Italien die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung gegen Jüd*innen gewendet, schreibt Mentana. Liliana Segre beschreibt ihre eigene Verwunderung über die Verfolgung durch die italienischen und deutschen Nazis auf Grund einer Religion, die in ihrer Familie nicht einmal eine bedeutende Rolle spielte. Sie bezeichnet es als eine Verfolgung allein dafür, „geboren worden zu sein“. Den zweiten Weltkrieg und ihre Zeit in Auschwitz erlebt sie selbst als junges Mädchen. Vielleicht ist es gerade diese Kindlichkeit, wie sie selbst es ausdrückt, die sie mit noch größerem Unverständnis und „Verwunderung über das Böse der anderen“ zurücklässt.

    Die Sprache ist sehr schlicht, und schafft es ohne große Ausschmückungen, konkrete Eindrücke und Gefühle zu vermitteln. Besonders eindrücklich sind die Erzählungen über das Leben danach, sich als Auschwitz-Überlebende in einer Welt wiederzufinden, in der alle so schnell wie möglich wieder zu einem normalen Alltag zurückkehren und die Kriegsjahre vergessen wollen. Die von Liliana beschriebene Banalität des Alltags und der Bedürfnisse der Menschen um sie herum hinterlassen beim Lesen fast ein schlechtes Gewissen, angesichts der eigenen bequemen Lebensumstände. Liliana selbst weigert sich, als Heldin bezeichnet zu werden, ihrem Überleben liege keinerlei Heldenhaftigkeit zugrunde. „Ich bin zufällig am Leben geblieben.“ Lange Zeit ihres Lebens spricht sie nicht über ihre Erlebnisse und ihre Zeit in Auschwitz. Sie versucht, sich an das Leben der anderen anzupassen. Die Nummer an ihrem Arm habe für sich gesprochen, wie sie es später beschreibt. Das sei ein einfacher Grund gewesen, zu schweigen. Nach einer starken Depression merkt sie jedoch, dass Verdrängung und Schweigen für sie keine Art sind, mit ihren Erfahrungen umzugehen. Sie beginnt, zu erzählen, erst in kleineren und vertrauten Kreisen, dann vor größerem Publikum. Denn für sich stellt sie fest: „Erinnern macht frei“.

    Enrico Mentana schreibt in seiner Einleitung zum Buch:

    „Es ist nur noch eine Frage von wenigen Jahren, bis es keine lebenden Zeugen der Shoah mehr geben wird.  […] Die Nazis, die die Juden und Jüdinnen verfolgten, deportierten und in den Tod schickten, gibt es kaum noch, und bald wird es auch keine der wenigen Überlebenden ihres fabrikgemäßen Genozids mehr geben.  Erstere haben die Shoah durchgeführt; letzteren blieb die dauerhafte Qual, davon zu erzählen und die Erinnerung daran wachzuhalten.“

    Damals wie heute bleibt die Aufgabe aufzuklären und der Bevölkerung den Spiegel vorzuhalten bei den Betroffenen. Mittlerweile ist Liliana Segre 94 Jahre alt. Und sie kämpft noch immer gegen das Vergessen.

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