Zwei lange Stunden in Torgau
Im Dokumentartheaterstück Letzte Station Torgau. Eine kalte Umarmung wird niemand umarmt. Dafür erzählt es von den Schicksalen derer, die Opfer des gewaltvollen Heimerziehungssystems der DDR wurden.
Man fängt unter Umständen recht bald an, auf die Uhr zu schielen. Zirka zwei Stunden Spieldauer und bereits in der ersten halben Stunde wird so viel Leid und Ungerechtigkeit geschildert, dass man heimlich hofft, das Stück ist bald vorbei. Die Inszenierung kratzt an den Grenzen des Erträglichen.
Trotzdem reiht sich eine Textpassage an die nächste und trotzdem bleibt das Erzählte nur ein Bruchteil dessen, was die über 4.000 Jugendlichen erlebt haben, die zwischen 1965 und 1989 in den Geschlossenen Jugendwerkhof in Torgau verlegt wurden. Es ist wichtig, hier trotz zunehmenden Unwohlseins weiter hinzusehen. Letzte Station Torgau. Eine kalte Umarmung ist keine platte Horrorshow. Das Format verschafft den Betroffenen Gehör.
In der Produktion geht es um das System der Heimerziehung im DDR-Regime, welches der Erziehung der Bürger*innen im Sinne des neuen, sozialistischen Staates dienen sollte. Um in eine Erziehungseinrichtung eingewiesen zu werden, oft unter Zwang, reichte mitunter schon eine Verweigerung des Eintritts in die FDJ oder das Schwänzen von Schulunterricht.
Explizit im Vordergrund des Dokumentartheaterprojekts steht der Geschlossene Jugendwerkhof in Torgau, letzte Instanz der „Jugendhilfe“ und für diejenigen vorgesehen, die in ihrer vorherigen Einrichtung nicht erfolgreich „umerzogen“ werden konnten. All das liegt weder örtlich noch zeitlich weit weg. Die letzte Person wurde vor etwa 35 Jahren, am 17. November 1989, aus dem Werkhof entlassen. Heute ist auf dem Gelände in Torgau eine Gedenkstätte eingerichtet.
Man sieht auf der Bühne keine Gewalt, vor allem hört man von ihr: Das Ensemble erzählt Geschichten von einer Hölle ohne Intimsphäre, in denen es um tagelangen Arrest in Dunkelzellen, Leibesvisitationen, sexuellen Missbrauch, Zwangsarbeit und ein exzessives tägliches Sportprogramm geht. Die Jugendlichen sind den Erziehern komplett ausgeliefert. Sie werden willkürlich hart bestraft und schikaniert, wissen oft nicht genau, warum sie in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau geschickt wurden oder, wann sie entlassen werden. Untereinander herrscht ein Klima des Misstrauens.
Grelles Licht und schwere Musik tragen zu der Atmosphäre der Angst, irgendwo auf dem Spektrum zwischen Ausweglosigkeit und Überlebensdrang, bei. Das Bühnenbild ist schlicht und dadurch eindrucksvoll wie vielseitig. Zentral ist eine Wippe, die optisch ziemlich genau den Geräten entspricht, die auf alten Fotografien vom Innenhof des Jugendwerkhofes abgebildet sind. Auf der Bühne der Diskothek erlebt sie mehrere Transformationen: ist sie anfangs noch Spielgerät, wirkt sie später als laut zuknallende Zellentür.
Das Stück, unter der Regie von Regine Dura und Hans-Werner Kroesinger, feierte bereits im März 2023 seine Premiere in der Diskothek. Im Oktober und November dieses Jahres wurde es erneut ins Programm aufgenommen – „weitere Termine in Planung“ verkündet das Schauspiel Leipzig auf seiner Website. Zum Glück. Es ist ein unerlässliches Stück Geschichtskultur, das eines der düsteren Kapitel DDR-Geschichte weiter ins Zentrum des kollektiven Bewusstseins rückt.
Titelbild: Rolf Arnold
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