Revisiting Shakespeare – Richard III. und die Tyrannei
Das Schauspiel Leipzig zeigt den populären Klassiker „Richard III.“ Ist zu Shakespeare nicht alles gesagt? Regisseur und Intendant Enrico Lübbe gibt Antworten.
Bereits vor rund 200 Jahren schrieb Goethe in „Shakespeare und kein Ende“: „Über Shakespeare ist schon so viel gesagt, daß es scheinen möchte, als wäre nichts mehr zu sagen übrig“. Das gilt heute noch viel mehr: Über Shakespeare wurde vermutlich alles gesagt. Seine Stücke eigenen sich hervorragend als Projektionsflächen und schaffen Platz für Interpretationen.
Worum geht es bei Shakespeare im Allgemeinen? Die Leidenschaftlichkeit in der Handlung hat Goethe an Shakespeare bewundert, dazu das Ausbrechen aus dem Korsett des Klassizismus:
„[…] trompeten Sie mir alle edlen Seelen aus dem Elysium des sogenannten guten Geschmacks, wo sie schlaftrunken in langweiliger Dämmerung halb sind, halb nicht sind, Leidenschaften im Herzen und kein Mark in den Knochen haben; und weil sie nicht müde genug zu ruhen und doch zu faul, um tätig zu sein, ihr Schattenleben zwischen Myrthen und Lorbeergebüschen verschlendern und vergähnen.“ (Goethe, „Zum Shakespearetag“)
Für „Richard III.“ stimmt es nicht. Hier geht es nicht um Leidenschaften, weil es um Macht geht und Macht, wie die Hölle, kalt ist. Denn mit keiner geringeren ist Richard im Bunde. Richard von Gloucester ist ein Bösewicht. Obwohl es sich um ein Historiendrama handelt, ist die Handlung des Stücks alles andere als schwer verdaulich. Lediglich schwer zu begreifen sind die Familienverhältnisse und die daraus abgeleiteten Herrschaftsansprüche auf den Thron Englands; was auch damit zusammenhängt, dass in der Drei-Fach-Familienkonstellation zwischen Tudor-Lancaster-York, die Namen Edward und Richard mehrfach auftauchen und dazu jeder noch über einen zusätzlichen Adelstitel anzusprechen ist. Das Drama zeigt den rasanten, mörderischen Aufstieg Richards zum König von England und sein ebenso schnelles Ende
Alles andere als kalt ist das flausch-warme und gemütlich eingerichtete Büro des in Pullunder gekleideten Intendanten des Schauspiels Leipzig Enrico Lübbe, der in diesem Stück auch den Regisseur gibt. In seinen Augen funkelt etwas von der Liebe fürs Theater. Ein bisschen wie einem Küken wird einem Zumute in dem Zimmer, und wenn er über „Richard III.“ spricht – als trüge das Stück selbst noch Flaum. Die Rotweinflasche in einer Ecke hinter dem Schreibtisch bestätigt ein Klischee über die Theaterwelt. Aber das passt zu Lübbe. Einfühlsam, herzlich, voll in der Thematik:
luhze: Herr Lübbe, vielleicht können Sie unseren Lesern einmal erklären: Was ist eigentlich ein Intendant und was war ihre Aufgabe als Regisseur?
Lübbe: Intendant und Betriebsleiter ist im Grunde das gleiche. Er ist vor allem für den künstlerischen Bereich zuständig: für den Spielplan, für die Besetzung des Ensembles, für die Besetzung der Regieposition und Fragen, wie die, wie viele Produktionen man macht. Das andere ist dann der Regisseur. Er ist für die Produktion verantwortlich. Der Intendant sucht das Stück aus und verantwortet die Spielplanpositionen, der Regisseur ist dann für die einzelnen Produktionen der künstlerische Leiter.
Wie nehmen Sie Leipzig als Kunst- und Theaterstadt wahr? Ist das für Sie dasselbe?
Lübbe: Im Verhältnis zu der Einwohnerzahl ist die Szene schon sehr, sehr groß. Das Schauspiel hat es in Leipzig eigentlich immer schwer gehabt, weil Leipzig sich mit dem Titel Musikstadt so brüstet. Das hat sich in den letzten Jahren aber deutlich geändert. Das hat aber auch damit zu tun, dass Leipzig sehr jung geworden ist, sehr studentisch. Das Schauspiel steht sehr, sehr gut da, wogegen andere Kulturbetriebe, vor allem nach Corona, sehr zu kämpfen hatten.
Ich würde gerne zum Stück zurückkommen. Ich hatte ein bisschen Angst: Es gibt ja Stücke, die von den Familienverhältnissen so komplex sind, dass man sie vorher einmal lesen muss, bevor man überhaupt durchsteigt. Ohne dass ich mich groß vorbereitet hätte, konnte ich der Handlung gut folgen. Was ist bei der Leipziger Fassung anders?
Lübbe: […] Jede Strichfassung [Lübbe meint Streichungen vom Original, Anmerkung der Redaktion] ist ja eine Form von Konzeption. Wenn wir das ungestrichen spielen würden, sind wir bei 5 ½ Stunden [Die Leipziger Fassung war rund 3 Stunden lang, Anmerkung der Redaktion]. Da geht’s erstmal um den Inhalt. Und wie man, glaub‘ ich, auch sieht, geht’s bei uns sehr um die Frauenfiguren, um Richard drum herum. […] Weil uns aufgefallen ist, dass die Frauenfiguren in diesem Stück – das ist bei Shakespeare auch schon so – fast die stärkeren Figuren sind als die Männer. Die Männer sagen häufig nicht nein oder versuchen sich so durchzulavieren. Und die Figuren, die Richard wirklich mal Contra bieten, das sind die Frauen.
Ich habe mich schon ein bisschen gefragt, was die Politik angeht. Shakespeares Drama ist ein Stoff, aus dem 16. Jahrhundert. Es geht um eine Monarchie. Hat das wirklich noch etwas zu tun mit unserer Jetztzeit?
Lübbe: Ich würde nicht sagen, es geht um Monarchie. Aber was man im Drama sieht, ist, wie einfach manchmal Leute hinters Licht zu führen sind. Wie einfach manchmal Intrigen zu spinnen sind. Wie Leute drauf reinfallen oder mitmachen! Meine Theorie ist: Es kann sich – inklusive des Publikums – keiner hinstellen und sagen: Ich hab’s nicht gewusst! Und das ist ja extrem heutig. Auch Richard sagt zu Beginn: Pass auf, ich mach euch jetzt den Dreckskerl! Und bevor er gekrönt wird, sagt er nochmal ganz konkret dem Publikum: ‚Also wenn ihr mich jetzt krönt, dann krieg ich im Grunde die Card Blanche und darf alles!‘ Es gibt einige Szenen, wo man sich fragt: ‚Warum sagt jetzt keiner ‚Stopp‘? Das darf ja wohl nicht wahr sein!‘ Ich gehe von einem klugen Zuschauer aus und einer Abstraktionsleistung.
Ein gutes Ensemble mit einzelnen Ausfällen.
In Lübbes Aufführung übernimmt Anne Cathrin Buhtz die Rolle des Richard III. Sie spielt einen stinkmäuligen Soziopathen im weißen Unterhemd, der barfuß oder wahlweise im leichten Businessanzug durch das Stück schlendert. Dazu mit einer unfassbar schön krächzenden und etwas nasalen Stimme. Das Bühnenbild, wie immer, fantastisch: Eine Mischung aus Gefängniskerker und Labyrinth. Vor diesem tristen, eintönigen Hintergrund kommen die pompösen Kostüme mit ihren Halskrausen, den Steckfrisuren und weiten Unterkleidern besonders gut zur Geltung. Besonders herausragend ist Niklas Wentzel als Lord Rivers kostümiert, der wie eine Figur aus dem Film „Dune“ aussieht.
Man hat von den Figuren Shakespeares gesagt, die Kleinstfiguren (fast Statistenrollen), oft kleine komödiantische Einlagen, seien das eigentliche Herzstück seiner Werke. An diesem Abend sind es weder sie noch Richard, sondern tatsächlich die Frauenfiguren. Hervorzuheben sind Katja Gaudard als opernhafte Herzogin und Mutter. Auch Bettina Schmidt als Königin Elisabeth (nicht diese Elisabeth, sondern die Urur-Großmutter ihrer Feindin und Cousine Maria Stuart) ist hervorzuheben.
Die Umsetzung ist gelungen: Ein unterhaltsamer Abend mit Witz und Klugheit, wenn auch wenig experimentierfreudig. Wäre da nicht ein schauspielerischer Ausfall einer der Rollen, der auch dem Publikum als etwas unangenehm nicht zu entgehen scheint, sodass alle den Auftritt bald sich vorbei zu wünschen scheinen. Zwar ist der Text vollkommen memoriert, aber nicht verinnerlicht: Performance und Artikulation kippen ins Stereotype, und das Stück für Momente ins Laientheater, was nun wirklich keiner der dortigen Schauspieler leistet und locker fachmännisch aufgefangen wird. Ganz erklärlich bleibt das nicht. Für Shakespeare darf gelten: mehr ist weniger – vor allem nach der minimalistischen und reduktionistischen Theaterpraxis der vergangenen Jahrzehnte –, aber manchmal ist auch weniger mehr. In diesem Sinne wäre vielleicht nur eine kleine Korrektur nötig gewesen. Die übersteuerte Rockmusik halten viele inzwischen auch für ein bisschen nervtötend. Man weckt zwar das Publikum, reizt es aber auch unnötig. Man hätte sich besser auf etwas weniger Übersteuertes mit mehr Atmosphäre verlassen.
Richard III. ist ein Figurendrama, das von dem Bösewicht als Hauptfigur lebt.
Aber noch einmal zurück zum Stoff und dem Stück selbst. Man hat von Shakespeares Figuren immer wieder gesagt, sie seien derart tiefsinnig und lebendig wie reale Personen:
„Und ich rufe, Natur, Natur! Nichts so Natur als Shakespeares Menschen… Er wetteifert mit Prometheus, bildete ihm Zug für Zug seine Menschen nach, nur in kolossalischer Größe …; und dann belebt er sie mit dem Haus seines Geistes, er redet aus allen und man erkennt ihre Verwandtschaft.“ (Goethe, „Zum Shakepearetag“)
Und der fantastische Max Reinhardt schrieb:
„Shakespeare ist der größte und ganz unvergleichliche Glücksfall des Theaters… Er hat es dem Schöpfer am nächsten getan. Er hat eine zauberhafte, vollkommene Welt geschaffen… Shakespeares Allmacht ist unendlich, unfassbar.“
Ob man das von der Figur Richard sagen kann…? – Im Grunde ist er das Abziehbild eines Schurken. Er ist derart verlogen und machthungrig, dass man ihn für eine Comic-Figur halten könnte. Im Grunde entspricht keiner seiner Dialoge mit den anderen Figuren im Stück der Wahrheit. Verbündete bringt er direkt um die Ecke, sobald sie ihm nicht mehr nützlich sind. Liebe dient ohnehin nur dem Erreichen von Interessen; von der Familie, den Brüdern, Schwestern und anderen Konkurrenten ist gar nicht erst die Rede: Sie fliehen oder sterben wie die Fliegen. Seine ganze Figur ist der Tyrannei gewidmet. Alles, was diesem Ziel und der dazugehörigen Strategie sich in den Weg stellt, zerstört er. Richard ist eine Mischung aus Schauspieler und Meuchelmörder. Vielleicht gerade, weil er so karikaturhaft böse ist, fast armselig, ist er auch so sympathisch und mitleiderregend.
Zwar sind der historische Überblick und Anspielungsreichtum in Shakespeares Stück gewaltig und unheimlich spielend auf die Figuren und Handlung übertragen, so dass sie manchmal, wie Spielfiguren wirken, was sie ja auch sind. Aber Shakespeare ist kein Klassiker, weil ein verkopftes Genie, das seine Figuren wie ein Schachspielergott auf dem Brett herumverschiebt. Oder wie Jan Kott auf der Rückseite meiner Reclam Ausgabe meint: „Richard III. ist ganz Intelligenz“.
Ist Richard intelligent? ein vielschichtiger Charakter? – Seifenblasen! Richard ist vielmehr ein Wurm … ein Würmchen! Shakespeare ist ein Klassiker, weil er zusätzlich versteht, das Populäre und Einfache zu bedienen, Schweres einfach zu machen. Seine Figuren sind immer verspielt, immer Theatermenschen, als wären sie real und nur insofern sind sie es. Die Figuren sind für echte Schauspieler geschrieben, wie auch Lübbe erwähnt, und das merkt man. Die Dialoge? – fantastisch, in fast jeder Szene zitierfähig. Ob es sich am Ende um ein politisches Stück handelt, ist eigentlich ganz egal. Eindeutig scheint nur zu sein – und damit kommen wir zurück zu Goethe – eine kleine Dialektik:
„[Z]um Schluss, obgleich ich noch nicht angefangen habe. Das, was edle Philosophen von der Welt gesagt haben, das gilt auch von Shakespeare, das was wir bös nennen, ist nur die andere Seite vom Guten, die so notwendig zu seiner Existenz und in das Ganze gehört.“ (Goethe, „Zum Shakespearetag“)
Das Schauspiel Leipzig präsentierte „Richard III.“ unter der Regie des Intendanten Enrico Lübbe seit dem 13.09. Das Stück läuft derzeit noch bis zum März kommenden Jahres. Den Videotrailer zum Stück findet ihr hier Schauspiel Leipzig – Richard III (Trailer)
Titelbild: Rolf Arnold
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