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  • “Wir schon wieder” – eine vielfältige Anthologie

    Was einige Jüdinnen und Juden in Deutschland seit dem 7. Oktober bewegt, verarbeiten 16 Autor*innen in ihren Texten in der Anthologie „Wir schon wieder“ mit literarischer Qualität.

    Am 23.10.2024 fand im Rahmen des Literaturfestivals „Literarischer Herbst“ eine Lesung mit den Autorinnen Dana von Suffrin, Adriana Altaras und Slata Roschal zu dem Buch „Wir schon wieder“ im UT Connewitz statt. Die drei haben ihre Erzählungen in der von Dana von Suffrin im Rowohlt Verlag herausgegebenen Anthologie veröffentlicht, die 16 jüdische Erzählungen von deutsch-jüdischen Schriftsteller*innen vereint. Die Texte setzen sich mit dem auseinander, was die Autor*innen gerade bewegt. Moderiert wurde der Abend von Nicolas van Veen.

    Vielfalt der Geschichten

    Was die Schriftsteller*innen bewegt, ist unterschiedlich. Für manche ist es besonders der Nahostkonflikt und die Debatte in Deutschland seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Andere fiktionale Texte handeln von Familie, Migration und Identität. In wieder anderen Erzählungen setzen sich Autor*innen damit auseinander, was „jüdisch sein“ für sie bedeutet. Die Texte handeln zum Teil vom Nationalsozialismus und der Gefahr durch Rechtsextremismus heute. Einige thematisieren den Literaturbetrieb, andere stellen die Bezüge zwischen dem Krieg in Israel und Palästina und dem Krieg in der Ukraine her. Spezifischer beschreibt Yevgeniy Breyer das Gefühl, bedroht zu sein durch Antisemitismus in Deutschland, und fordert über ein „Nie wieder ist jetzt!“ hinausgehend ein „Nicht mit mir!“ (S. 52). Exemplarisch erwähnt gibt es auch ein satirisches Märchen von Joe Fleisch. Die Kurzgeschichte „Die Welt, in der wir leben“ von Linda Rachel Sabiers handelt von Yael, einer schwangeren Frau ohne Kinderwunsch, am Nachmittag des 7. Oktobers in Berlin. Die Geschichte von Dana Vowinckel „Was hättest du getan“ ist leider sehr kurz und damit ziemlich schnell vorüber. Leah, eine junge jüdischen Frau in New York, versucht einen zweiten Roman zu schreiben. Das Projekt scheitert daran, dass Leah keinen Nachweis über ihre Zugehörigkeit zum Judentum erbringen kann, und der Verlag sich vor einer Debatte um Vaterjuden fürchtet und ihr Buch nicht drucken möchte. Am Ende wird alles noch schlimmer, als Leahs Geschichte von ihrem nicht jüdischem Freund kommerzialisiert wird.

    Einblick in den Schreibprozess 

    Wie bei Büchern sehr naheliegend, ging es bei der Lesung um Schreibprozesse der Autor*innen, genauer gesagt um autofiktionales Schreiben. Adriana Altaras erzählte, dass sie beim Schreiben von sich aus gehe, von dem, was sie erlebe, erfahre, und beschäftige, was sie dann aufschreibe und fiktionalisiere. In ihrem Text“ rahmt ein Spaziergang am Rhein die Geschichte ein, in der es um Altaras Leben als Regisseurin, Jüdin und Griechin in Deutschland geht. Darin schreibt sie allerdings auch, dass sich unter Juden seit dem 7. Oktober „ein Riss“ (S. 20) aufgetan habe.

    Dana von Suffrin erzählte, dass sie sich beim Schreiben an ihrer Biographie entlang hangele, aber nicht nur biographisch, sondern auch fiktional schreibe. Viele ihrer Leser*innen würden das nicht verstehen und ihre Bücher für ihre autobiographische Familiengeschichte halten, was aber nicht stimme. Von Suffrin bemängelte auch, dass die Leser*innen scheinbar manchmal ein größeres Interesse an Gossip hätten als an Literatur. Als Reaktion habe sie den Text „Sieben Geschichten über uns, in denen nichts passiert und die vielleicht auch gar nicht stimmen“ geschrieben.  In Bezug auf die sechste Geschichte erzählte Von Suffrin, dass sie habe sich für das Ruheabteil nun extra Noisecancelling-Kopfhörer angeschafft. Denn etwas Gossip, zumindest etwas Amüsement, ist auch irgendwo Sinn von Lesungen.

    Sechzehn jüdische Erzählungen in „Wir schon wieder“

    Jüdisches Leben und Literatur in Deutschland: eine zerbrechliche Errungenschaft 

    Das Buch ist eindeutig kein Trialog zwischen Jüdinnen und Juden, Muslime uns Muslima und Deutschen. Es ist auch kein Dialog zwischen Juden und Muslimen im heutiegen Kontext des Nahostkonflikts. Es geht auch nicht um einen Austausch zwischen den polarisierten Lagern der Antideutschen und Antikolonialisten. Dafür gibt es andere Bücher.

    Stattdessen sammelt „Wir schon wieder“ jüdische Erzählungen, womit es in dieser deutschen Anthologie um die Sichtbarkeit von Jüdinnen und Juden in Deutschland heute geht.  Damit ist das Buch ein wertvoller Beitrag für die deutsche, nicht jüdische Mehrheitsgesellschaft und für alle, die sich dem Thema gerne widmen wollen. Eine Nachfrage bei der Lesung an die Herausgeberin bestätigt, dass sich das Buch genau an dieseMehrheitsgesellschaft. In der scheinbar viel zu viele immer wieder vergessen, dass es „die Juden“ nicht gibt. Für sie ist die Anthologie wichtig, um nachvollziehen zu können, wie sich Jüdinnen und Juden in Deutschland heute fühlen, was sie beschäftigt und was ihnen wichtig ist, ohne dabei zu generalisieren. Gleichwohl, kann die Anthologie auch für Jüdinnen und Juden interessant sein, denn in den Worten der jüdischen Autor*innen können Identifikation, Verständnis und Bestärkung gefunden werden.

    Wie die Herausgeberin Dana von Suffrin in ihrem Vorwort betont, ist es nicht selbstverständlich, dass heute, fast 80 Jahre nach der Shoa, Jüdinnen und Juden wieder als selbstbewusster Teil der Öffentlichkeit ein solches Werk herausbringen können. Zusammen wollen Herausgeberin und der Rowohlt Verlag eine „jüdische Literatur“ aufzeigen die vielfältig, ambivalent und nicht einheitlich ist, heute aber eben keine Selbstverständlichkeit, sondern eine zerbrechliche Errungenschaft.

    Wer ist „Wir“? 

    In dem Vorwort von „Wir schon wieder“ wünscht sich Dana von Suffrin, dass es irgendwo ein Zimmer gibt, in dem „Wir sitzen und streiten in Frieden“.

    Wer hier und im Buchtitel unter dem Begriff „Wir“ zu verstehen ist, ist unklar. Es gebe jedenfalls kein jüdisches Kollektiv, das schreibe, sagte Slata Roschal in der Lesung. „Wir“ sei relativ, undefiniert und ambivalent.

    Dass der Buchtitel Grund für einige Auseinandersetzungen war und deshalb einige angefragte Autor*innen, abgesagt haben, wurde in der Lesung deutlich. Maxim Biller zum Beispiel hat abgesagtder t und ist mit seinem Absage-Brief trotzdem in der Antholgie abgedruckt. In dem Brief erläutert er, dass er wie Franz Kafka ein „deutscher Schriftsteller“ sei (S. 26) und sich nicht „von Leuten instrumentieren lassen“ wolle, die ihn zu etwas anderem, nämlich einem „jüdischen Schriftsteller“ machen wollen.Der Rowohlt Verlag kam auf die Herausgeberin Dana von Suffrin zu und bat sie, die Anthologie zusammenzustellen. Ein gewisses Bild von „jüdischer Literatur“, sollte dann doch komponiert werden. Vielleicht auch, weil sich Anthologien gut verkaufen ließen, meinte die Herausgeberin auf der Lesung sehr offen.

    Immerhin der Buchrücken könnte die Erklärung liefern, dass mit dem „Wir“ im Buchtitel Schriftsteller*innen gemeint sind, die durch „jüdischen Sozialisierung, geistige Tradition und einem fragilen Verhältnis zur deutschen Mehrheitsgesellschaft“ vereint sind. In der Anthologie sind die Texte von Adriana Altaras, Maxim Biller, Zelda Biller, Yevgeniy Breyger, Joe Fleisch, Marina Frenk, Lena Gorelik, Elfriede Jelinek, Dmitrij Kapitelman, Olga Mannheimer, Eva Menasse, Slata Roschal, Linda Rachel Sabiers, Dana von Suffrin, Ljudmila Ulitzkaja und Dana Vowinckel versammelt. Wer die Worte dieser Schriftsteller*innen lesen möchte, dem sei dieses Buch sehr ans Herz gelegt.

    Deutsche Debattenkultur 

    Gemeinsam ist vielen der Autor*innen die Bemängelung der Debattenkultur in Deutschland. Adriana Altaras sprach sogar von einem gänzlich „fehlenden Diskurs“, weil alle Diskursregeln schon lange unbeachtet seien. Slata Roschal  erfahre seit dem 7. Oktober eine extrem feindliche Umwelt, die für sie eine arge, einschneidende Verletzung sei, und eine aufgeladene, nervöse Atmosphäre. Etwas ähnliches drückt auch Yevgeny Breyer in seinem Text „Nicht mit mir“ aus. Er fühle sich bedroht als „Jude, Ukrainer, Deutscher“ und schlicht als „Mensch“. Eva Menasse wiederum nimmt in ihrem Text „In unverdienter Sicherheit und zufälligem Frieden“ eine neue, durch den 7. Oktober ausgelöste, antisemitische Stimmung weniger bedrohlich wahr, als die Gefahr, die von militantem Rechtsextremismus ausgeht.

    Und Adriana Altaras berichtete, dass sich eine besondere Ambivalenz daraus ergäbe, dass man nicht hinter der israelischen Regierung stehe, trotzdem aber einen Bezug zu Israel habe, etwa familiär, durch Arbeit, durch Religion oder Identität. Gerade diese unterschiedlichen, teils gegensätzlichen Wahrnehmungen machen die literarische Qualität dieses besonderen Buches aus, mit unterschiedlichen „politischen, persönlichen, künstlerischen“ Beiträgen, die sich trotz aller Unterschiede sehr ähneln.

    Harmonie, Humor und  Trauer 

    Auf der Bühne in Connewitz saßen drei deutsche Schriftsteller*innen zusammen, die zu dem „Wir“ im Buchtitel gehören und aus ihren Texten lasen und darüber sprachen, was sie momentan bewegt.

    Es war ein sehr harmonischer, auch humorvoller Abend, vielleicht fast schon ein bisschen so, wie es sich die Herausgeberin in ihrem Vorwort wünscht. Nur dass die Traurigkeit und die Verwirrtheit um den Frieden, den es eben doch nicht gibt, genauso im Raum lagen, wie der schwere, zerstörerische Anlass des Buches vor einem Jahr, dem 7. Oktober 2023.

     

    Fotos: privat

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