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  • Rückblick auf die brisante 34. Euro-Scene in Leipzig

    Antisemitismusvorwürfe führten zur Absage von „AND HERE I AM“. Die Festivalleitung verweist auf Kunstfreiheit, eine Initiative auf das generelle Problem von Antisemitismus im Kulturbetrieb.

    Die 34. Ausgabe des internationalen Tanz- und Theaterfestival Euro-Scene, fand vom 5. bis 10. November in verschiedenen Leipziger Spielstätten statt. Im zugehörigen Programmheft ist zu lesen: „Vier Werke von Künstlern aus dem Iran, Libanon und Palästina richten dieses Jahr unseren Fokus auf eine Region, die seit dem späten 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund europäischer Kolonial- und Geopolitik als Naher und Mittlerer Osten bezeichnet wird.“ 

    Die Einladung des Gastspieles „AND HERE I AM“ von Ahmed Tobasi, künstlerischer Leiter des palästinensischen Freedom Theatre Jenin (FTJ) aus dem Westjordanland, löste eine konfliktreiche Debatte aus. Eingeleitet wurde die Debatte von der Schriftstellerin Dana von Suffrin und der Initiative ArtistsAgainstAntisemitism. Beide warfen der Inszenierung Antisemitismus vor. 

    Lara Wenzel, die ein Teil der Initiative ist, erklärt: „Unser Ziel mit dem Statement war die Ausladung der Inszenierung und der Theatergruppe. Das FTJ veröffentlichte eine Woche nach dem 7. Oktober 2023 einen Post auf ihrem Instagram Kanal thefreedomtheatre, in dem sie sich mit bewaffneten Gruppen in Gaza solidarisierten. Zudem sind sie Teil der sogenannten Cultural Intifada und unterstützen die BDS-Bewegung.  Daher haben wir gefordert, dass diese Gruppe nicht in Leipzig bei dem öffentlich geförderten Theaterfestival auftreten soll.“ Die BDS-Kampagne boycott, divestment and sanctions ruft als Zusammenschluss verschiedener Initiativen im Namen der palästinensischen Zivilgesellschaft zu Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegen Israel auf.  

    Am 15. Oktober gab die Euro-Scene in einer Pressemitteilung die Absage der Inszenierung „AND HERE I AM“ bekannt. Christian Watty, künstlerischer Leiter des Festivals, stelle mit Bedauern fest, „dass die Aufführung zum jetzigen Zeitpunkt – auch aufgrund des gültigen Beschlusses „Gegen jeden Antisemitismus!“ der Ratsversammlung der Stadt Leipzig vom 26.06.2019 – in Leipzig nicht gezeigt werden kann. Durch den Beschluss sind die Kultureinrichtungen der Stadt verpflichtet, sich insbesondere von jeglichen Boykottaufrufen gegenüber Israel zu distanzieren.“   

    Die Chronologie zur Absage 

    Schon Anfang August wies eine „jüdische Übersetzerin auf die terroristischen und antisemitischen Hintergründe des Freedom Theatre in zwei längeren E-Mails“ hin. Dies wurde in einem tazArtikel am 6. November berichtet.  

    Einen Tag nachdem das Statement der Initiative ArtistsAgainstAntisemitism am 5.Oktober auf Instagram veröffentlicht wurde, positionierte sich die auch die Euro-Scene zu den Vorwürfen. In ihrem Statement heißt es, dass sie sich deutlich von Antisemitismus, Terrorismus, Islamismus, sowie allen Formen von Gewalt oder Diskriminierung distanzieren würden. Eine Ausladung lehnte die Euro-Scene zunächst ab, da diese die gesellschaftlichen Debatten nicht fördere. Stattdessen wurden Angebote zur Kontextualisierung in Aussicht gestellt. 

    Das Dezernat Kultur der Stadt Leipzig reagierte am 11. Oktober mit einem Pressestatement, indem auf den Stadtratsbeschluss „Gegen jeden Antisemitismus!“ vom Juni 2019 sowie die Verbindung des FTJs zu der als antisemitisch eingestuften BDS-Kampagne verwiesen wird. Aufgrund dieses Widerspruchs könne das Stück „AND HERE I AM“ des Freedom Theatre Jenin von der Stadt nicht unterstützt werden.  

    Nach überregionaler medialer Aufmerksamkeit veröffentlichte die Euro-Scene ihr abschließendes Pressestatement am 15. Oktober. Darin wurde die Absage des Gastspiels bekannt geben und mit dem Stadtratsbeschluss „Gegen jeden Antisemitismus!“ begründet. 

    Positionierung der euro-scene 

    In den Statements vom 6.Oktober und 15 Oktober spiegelt sich wider, dass die euro-scene die Absage des Gastspiels bedauert. „Wir finden es erschreckend, wie schnell das Werk von Künstler*innen verurteilt und die Intentionen des Freedom Theatre in Frage gestellt werden – vermutlich ohne das Stück gesehen zu haben. 

    Vor dem Hintergrund einer stark polarisierten Debatte um den allgegenwärtigen Nahostkonflikt hatte die Festivalleitung gehofft, mit einer stark biografisch geprägten Arbeit aus dem Jahr 2017 einen Blick auf das Individuum in Zeiten des eskalierenden Konfliktes werfen zu können.“  

    Wenzel dagegen bedauert:  

    „Eine Sache, die uns auf jeden Fall in der Kommunikation von der Euro-Scene gefehlt hat, ist das klare Eingeständnis dessen, dass diese Theatergruppe Positionen vertritt, die nicht auf Ko-Existenz und Verständigung im Nahost-Konflikt ausgerichtet sind. Es wurde sich ich sehr stark auf die Beschlusslage der Stadt Leipzig bezogen, anstatt näher auf die kritischen Hintergründe des Stückes einzugehen.  Diese Herangehensweise ist meiner Ansicht nach eine Möglichkeit nicht Verantwortung zu übernehmen und sich dahinter zu verstecken.“ 

    Auf Anfrage von luhze gab es keine Stellungnahme der Euro-Scene zur Positionierung des FTJs. Wenzel kritisierte die unzureichende Prüfung des FTJs seitens der Euro-Scene, welche in ihrer Verantwortung gewesen wäre. Erst die ArtistsAgainstAntisemitism und die Autorin Dana von Suffrin wiesen auf die Verbindung des FTJs zur BDS-Bewegung hin. Zu diesem Vorwurf äußerte sich die euro-scene auf Anfrage hin auch nicht.  

    Vor dem Hintergrund des selbstgewählten Schwerpunktes auf den Nahen und Mittleren Osten, fragt sich Wenzel, warum keine israelischen Positionen eingeladen wurden. „Es gibt viele starke israelische und jüdische Stimmen, viele starke künstlerische Positionen, die man hätte einladen können.“  Nur so hätte ein demokratischer Diskurs garantiert werden können. Das Fehlen israelischer Positionen wurde von der euro-scene nicht kommentiert.  

    Sensibilisierung gegen Antisemitismus  

    Die ArtistsAgainstAntisemitism hatten nicht nur die Ausladung des Gastspieles als Ziel. Besonders möchten sie auch, wie Wenzel betont: „eine Sensibilisierung und Auseinandersetzung mit Antisemitismus, im Kontext des Gastspieles besonders mit israelbezogenem Antisemitismus anstoßen.“ Wenzel fragt sich, wie sich der Raum innerhalb eines Festivals strukturieren ließe, damit Antisemitismus, aber auch Rassismus und Sexismus in der Kunstszene nicht reproduziert werden. 

    Die Euro-Scene teilte in ihrer Pressemitteilung vom 11.November mit, dass sie auf eine erfolgreiche Festivalausgabe in diesem Jahr zurückblicke. In einem Interview mit dem MDR vom 5.November erklärte Christian Watty, dass er in kommenden Gesprächen für eine multiperspektivische Aufarbeitung des Vorgangs und einen Diskurs bereit wäre.  

    Wenzel kommentiert: „Christian Watty hat in einem Radio-Interview mit dem MDR angekündigt, dass es jetzt eine kritische Aufarbeitung geben wird. Wir sind sehr gespannt, wie die besetzt sein wird. Es wäre ein wichtiger erster Schritt kontroverse Diskussionen zu gestalten und zuzulassen. Aber auch einen sensiblen Rahmen zu schaffen, damit Austausch möglich wird. Zur Sensibilisierung für die Problematik fände sie Seminare oder Workshops sehr hilfreich. Sie erwähnt, „dass es auch für die Stadt Leipzig von Vorteil wäre solche Angebote zu finanzieren und die öffentlich geförderten Institutionen mit Nachdruck zu bitten, daran teilzunehmen.“ Zum Schluss betont Wenzel: „Es ist wichtig, sich zu trauen zu solchen Themen Stellung zu beziehen und dabei nicht den differenzierten Diskurs aufzugeben.“  

    Titelbild: 2024 Key Visual euro-scene Leipzig

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