Im Portal zwischen den Jahren
Zu Beginn des Studiums ist Kolumnistin Caroline ungeplant schwanger geworden. Die Weihnachtsfeiertage rücken die Erinnerung daran wieder mehr in den Vordergrund.
Ich habe nicht abgetrieben. Darüber nachgedacht aber schon.
Die Geschichte begann vor einem Aldi-Regal, vor dem sich nach jahrelangem Vegetarismus ein plötzlicher Salami-Appetit einstellte. Am Freitag der zweiten Vorlesungswoche meines Bachelorstudiengangs, vor etwa zwei Jahren, habe ich zwei positive Schwangerschaftstests gemacht. In der Antike-Vorlesung am Nachmittag und auf der anschließenden sechsstündigen Zugfahrt zu meinem Freund habe ich geweint. Außer im Vakuum zwischen den Feiertagen fühlt sich alles mittlerweile surreal an. Weihnachten bringt die Erinnerung zurück.
Mein Partner, mit dem ich damals noch eine Fernbeziehung führte, hat mir seine Unterstützung versprochen, unabhängig von meiner Entscheidung für oder gegen das Kind. Dann folgten wenige Wochen, in denen ich nicht wusste, was zu tun ist. Ich habe mir eingeredet, ich würde mir die tägliche Übelkeit nur einbilden. Ich dachte zwischenzeitig, ich wäre nicht geeignet zum Studieren, weil ich mich schlecht konzentrieren konnte und im Alltag vergesslich war. Ich habe Wohnungen besichtigt, die für die bevorstehende Lebenssituation geeigneter sein würden, und zu Kindergärten und Unterstützungsangeboten für Studierende mit Kind recherchiert. Jeden Tag habe ich mich fünfmal für und fünfmal gegen die Mutterschaft entschieden.
In Deutschland ist das Prozedere jetzt dasselbe wie im Jahr 2022, wenn man eine Schwangerschaft nicht fortführen möchte: Den Paragrafen 218 des Strafgesetzbuches gibt es noch, der einen Abbruch nach vollendeter Einnistung der befruchteten Eizelle grundsätzlich unter Strafe stellt. Mildernd wirken weiterführende Bestimmungen, die zum Beispiel in den Paragrafen 218a und 219 geregelt sind. Seit Juni 2022 ist das sogenannte Werbeverbot aufgehoben, sodass Ärzt*innen heute beispielsweise auf ihrer Website über Ablauf und Methoden des Schwangerschaftsabbruches informieren können, ohne sich dem Risiko strafrechtlicher Verfolgung auszusetzen. Wer eine Abtreibung erwägt, muss zunächst eine Beratung bei einer staatlich anerkannten Beratungsstelle nachweisen. Mindestens drei Tage müssen zwischen der Beratung und dem Eingriff liegen.
Daraus resultiert ein ziemlich straffer Zeitplan. Die operative Methode kann in Deutschland bis zum Ende der 14. Woche durchgeführt werden. Ein medikamentöser Schwangerschaftsabbruch muss bis zum Ende der neunten Schwangerschaftswoche stattfinden, außer es liegt ein medizinischer oder kriminologischer Ausnahmefall vor. Wenn man die Schwangerschaft erst nach dem Ausbleiben der Menstruation bemerkt, hat möglicherweise bereits die fünfte oder sechste Schwangerschaftswoche angebrochen. Ganz besonders, wer nicht viel finanziellen Rückhalt hat und sich noch Gedanken darüber machen muss, wie der Eingriff (oder auch ein Baby) finanziert werden soll, hat kaum Zeit zum Abwägen einer Entscheidung.
Wichtig ist also ein niedrigschwelliger Zugang zur nötigen medizinischen Versorgung. Zu Beginn der 2000er-Jahre hat es in Deutschland noch rund 2.000 Kliniken, Arztpraxen und OP-Zentren gegeben, die Schwangerschaftsabbrüche durchführten. 2018 gab es laut Tagesschau bundesweit noch 1.089 Anlaufstellen. Heute listet die Stadt Leipzig vier Praxiskliniken und 14 gynäkologische Praxen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, was zumindest in der Region eine verhältnismäßig gute Verfügbarkeit verspricht.
Für die Konfliktberatung, die im Vorfeld notwendig ist, konnte ich im „richtigen“ Zeitfenster allerdings keinen Termin in Leipzig bekommen. Darum fuhr ich mit meinem Freund zum Gesundheitsamt in Grimma. In die Beratung selbst ging ich allein. Nach dem Gespräch fühlte ich mich geordneter und weder bevormundet noch verurteilt. Eine abschließende Entscheidung musste ich dort nicht fällen oder etwa der Beraterin mitteilen. Im Anschluss des Gesprächs habe ich mich mit dem Beratungsschein wieder auf den Weg nach Hause gemacht.
Für einen Abbruch habe ich mich nicht entschieden. Vor allem, weil ich ohnehin irgendwann einmal Mutter sein möchte. Ich setzte mich also noch einmal in den Zug. Dieses Mal, um mit meinen Eltern zu sprechen. Ich hatte furchtbare Angst vor ihrer Reaktion, weil ich meine eigenen existenziellen Ängste schamlos auf sie projiziert hatte, aber sie haben sich gefreut und ihre Hilfe angeboten. Damit wurden meine letzten Zweifel ausgeräumt. Ich stellte mich darauf ein, die letzten Feiertage zu verbringen, bevor ich nicht mehr „nur ich“ sein würde, sondern auch Mutter.
Aber jede Realität ist eine Kaugummiblase, die schneller platzen kann, als man „Schwangerschaftskonfliktberatung“ ausspricht. Beim ersten Kontrolltermin nach der Feststellung der Schwangerschaft – es muss etwa die neunte oder zehnte Schwangerschaftswoche gewesen sein – stellte die Ärztin fest, dass das Herz des Embryos nicht mehr schlug. Einer von drei jungen Erstgebärenden passiere das so, sagte meine Gynäkologin damals mit mitfühlender Miene und es hat mir in diesem Moment nicht geholfen. Der Verlust tat schrecklich weh. Das tagelange Warten auf das Einsetzen der Blutungen und die Fehlgeburt selbst auch.
Viele Frauen* haben diese und ähnliche Erfahrungen gemacht. Diese Episode meines Lebens hat auch abseits der Verlusterfahrung Spuren hinterlassen: Ich esse seitdem wieder Fleisch und ich denke ganz bewusst darüber nach, wie ich mir die Familienplanung in Zukunft vorstellen kann und mit wem. Meistens fühlt sich alles nur noch wie ein entfernter Traum an, außer im Loch zwischen den Jahren, in dessen Pfütze am Boden sich dieses Leben spiegelt, das ich beinahe gelebt hätte.
Titelbild: Pixabay
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