Kälte trotzen, Zeichen setzen: Tausende stellen sich dem AfD-Parteitag in Riesa entgegen
„Alle zusammen gegen den Faschismus“ rufen tausende Demonstrierende auf dem Weg zur Kundgebung. Das Aktionsbündnis „Widersetzen“ hat dazu aufgerufen, den AfD-Parteitag in Riesa zu verhindern.
Draußen ist es noch dunkel, während sich die ersten Demonstrierenden am frühen Morgen zur gemeinsamen Anreise nach Riesa an Gleis 19 im Leipziger Hauptbahnhof versammeln. Zwischen den Demonstrierenden treten Polizist*innen hervor, die die Menge auf der Zugfahrt nach Riesa begleiten. Als sich die Türen der Regionalbahn öffnen, strömen die Menschen hinein. Plätze sind rar und wer zurückbleibt, muss auf den nächsten Zug warten.
Aufbruchsstimmung: Auf dem Weg nach Riesa
Um 5:00 Uhr verlässt der RE 50 den Hauptbahnhof. Vor den Fenstern blitzen vereinzelt Schneereste auf, während sich die Demonstrierenden auf engem Raum zusammendrängen. Die Luft ist stickig. Zwischen dunkler Regenkleidung, Rucksäcken und Schals schließt eine junge Person nochmal die Augen. Unter einem hochgekrempelten Ärmel ist eine Reihe Zahlen zu sehen, mit schwarzem Edding auf die Haut geschrieben. Es handelt sich um eine individuelle Nummer, mit der sich die Aktivist*innen im Falle einer Polizeimaßnahme beim sogenannten Ermittlungsausschuss melden können. Der Ermittlungsausschuss kann bei polizeilichen Repressionen rechtlichen Beistand vermitteln. Wenn Aktivist*innen in eine Polizeimaßnahme geraten, können sie den Auschuss anrufen und sich anhand ihrer selbst generierten Nummer melden.
Gleichzeitig sind auch andernorts Gruppen auf dem Weg. Mit Bus, Bahn und Fahrgemeinschaften mobilisiert das Aktionsbündnis “Widersetzen” aus ganz Deutschland. Gemeinsam mit weiteren Organisationen wie “Riesa für alle”, “Aufstehen gegen Rassismus” und Gewerkschaften hat das Aktionsbündnis für den heutigen Tag viel geplant. Die Zugreisenden wollen vom Bahnhofsvorplatz auf einer zuvor angemeldeten Route zur WT-Energiesysteme Arena ziehen, wo der AfD-Bundesparteitag stattfinden soll. Außerdem sind Kundgebungen und Blockaden geplant. Ab 9:00 Uhr soll dann die Großkundgebung mit Livemusik auf dem Parkplatz vor der Arena eröffnet werden. Das Ziel: Den AfD-Bundesparteitag verhindern.
Nach 45 Minuten Fahrt stimmen die Demonstrierenden beim Verlassen des Zuges erste Sprechgesänge an. Auf ihrem Weg vom Gleis zum Bahnhofsvorplatz wird die Menge von Polizeibeamt*innen begleitet. Auf dem Vorplatz angekommen, heißt es erstmal warten – auf einen weiteren Zug aus Leipzig.
Die Ankunft der Zugreisenden bedeutet Verstärkung für den Demozug. Aus Lautsprechern singt Nana Mouskouri “Guten Morgen Sonnenschein” und versetzt die Menge in Bewegung. Um 7:15 Uhr wird die Versammlung offiziell eröffnet. Immer wieder sind Sprechchöre zu hören und die Menschenmenge grölt “Ganz Deutschland hasst die AfD”.
Während irgendwo hinter der Wolkenwand die Sonne aufgeht, zieht der “lila Finger” (Finger bezeichnen verschiedene Demonstrationszüge, Anm. d. Red.) vom Bahnhofsvorplatz in Richtung der WT-Energiesysteme Arena los. Auf den Bannern der ersten Reihe heißt es: “Alle zusammen gegen den Faschismus – Solidarisch in die Offensive” und “Nie wieder Faschismus heißt nieder mit der AfD“. Dahinter formiert sich ein Zug mehrerer hundert Menschen, die im gemäßigten Tempo voranschreiten. Begleitet werden sie von einem Lautsprecherwagen, von dem laute Musik durch die schlafenden Straßen schallt.
An einer Straßengabel kommt der Umzug zum Halten. Ein Teil der Demonstrierenden will dem Lautsprecherwagen folgen, obwohl der angemeldete Weg links über eine Fußgängerbrücke führt. Die friedliche Stimmung scheint erstmals zu kippen. Lautsprecherdurchsagen der Polizei weisen darauf hin, dass Vermummung und Pyrotechnik sowie andere Angriffsgegenstände verboten seien. Auch die anwesenden Ordner*innen fordern den Umzug auf, die geplante Strecke weiterzulaufen.
Trotz zehnminütiger Stagnation bleibt es weitestgehend ruhig und die Menge steuert schließlich die Fußgängerbrücke an. Diese führt die Menschengruppe in den Bereich neben dem Berufsinformationszentrum Riesa [BIZ] und der von Polizei-Sprintern und einem Wasserwerfer blockierten Kreuzung der Berliner Straße und der Rudolf-Breitscheid-Straße. Von hier aus sollen die Demonstrierenden in große Gruppen geteilt werden, um dann nacheinander die Straßenkreuzung zu durchqueren. Doch der Weg zur Rudolf-Breitscheid-Straße bleibt versperrt.
Angespannt: Demozug wird zwei Stunden aufgehalten
Je mehr Zeit vergeht, desto mehr Unruhe breitet sich in der Menschenmenge aus. Nach zwanzig Minuten versuchen einige Teilnehmende, Möglichkeiten zu finden, der Blockade zu entkommen. Während es einige vorne rechts versuchen, drängt sich ein Teil des Umzugs nahe der Fußgängerbrücke in eine Seitenstraße, die am Gelände des BIZ vorbeiführt. Nach Aussage anderer Reporter hätten Demonstrierende versucht, die Richtung zu wechseln, um der Polizeiabsperrung zu entkommen. Es sei Pyrotechnik gezündet und Zäune niedergetreten worden, die eine Rasenfläche des BIZ umgeben. Vom vorderen Ende rennt eine Gruppe von Einsatzkräften los, dabei wird eine Person zur Seite gedrängt und stürzt zu Boden. Ein Polizist ruft “Verpisst euch!” und breitet die Arme in einer ausschweifenden Bewegung aus. An der Straßenbiegung werden die Demonstrierende unter anderem mit Pfefferspray zurückgedrängt.
“Das fühlt sich ungerecht und überwältigend an, so machtlos zu sein”, sagt Amelie, eine der Aktivist*innen. “Wir sind nicht hier, um Stress anzufangen, sondern um unsere Meinung zu sagen. Aus dem Nichts wurden wir in die Menge gedrängt und es kam Pfefferspray ohne Grund.” Ein solcher Einsatz von Pfefferspray käme unerwartet, meint ein Sanitäter vor Ort. Durch Organisationen wie “Sanikollektiv Lützerath” und “Demosanis Leipzig” seien viele Sanitäter*innen nach Riesa gereist, um in Notsituationen zu helfen. “Ich war auch schon in Essen dabei. Aber da war es viel unproblematischer, weil der Demozug einfach laufen konnte”, berichtet der Fachsanitäter.
Es kommt nochmals zu einem Ausbruchsversuch, wieder ohne Erfolg. Gegen 08:45 Uhr rollt der Wasserwerfer ein, der bis zu diesem Zeitpunkt unbewegt hinter Polizeiwagen auf der blockierten Kreuzung stand. Dass bei Minusgraden überhaupt ein Wasserwerfer durch die Polizei gestellt wird, findet Sina Reisch, Sprecherin des Aktionsbündnisses “Widersetzen”, unverständlich und bedrohlich. Nach ein paar Minuten setzt der Wasserwerfer rückwärts zurück und entfernt sich vom Demozug. Das Auftreten der Polizei wird in Parolen wie “Wo, wo, wo wart ihr in Hanau?” und Redebeiträgen an diesem Tag immer wieder kritisiert.
Schließlich schallt die Stimme eines Beamten über die Menge hinweg: der rote Finger würde sich nun der Demonstration über die Fußgängerbrücke anschließen. Danach könne der Zug seinen Weg in Richtung Arena fortsetzen.
Mittlerweile sind fast zwei Stunden vergangen, in denen die Menschenmenge verharrt. Es gibt weder Wärmezelte, noch Toiletten. Silber-goldene Rettungsdecken glitzern im Licht, Tee und Kaffee dampfen aus Termoskannenbechern. Die Anwesenden scheinen zur Ruhe zu kommen, während immer mehr Teilnehmende aus dem “roten Finger” über die Fußgängerbrücke hinzukommen. Hoffnungsvoll und energetisch erwarten die Demonstrierenden die eben angekündigte Öffnung der Polizeisperre – die Enttäuschung über die Maßnahme bleibt. “Wir sitzen schon lange fest. Wir sind mit einem legal angemeldeten Demozug unterwegs. Ich finde es schade, dass wir hier so blockiert werden und uns unser Recht, zu demonstrieren, irgendwie genommen wird und es auch schon zu gewaltsamen Vorfällen kam”, äußert sich Diana, die heute Morgen aus Leipzig angereist ist. Die Stimmung sei angespannt, trotzdem fühle sie sich stark mit all den Menschen, die mit ihr nach Riesa gekommen seien, verbunden.
Schließlich setzt der Umzug seinen Weg zur Arena fort. Kulissenhaft wirken die Fassaden und Vorgärten der Plattenbauten und Wohnblöcke der Rudolf-Breitscheid-Straße. Vereinzelt stehen Schaulustige an ihren Fenstern oder auf dem Balkon. Während ein Mann den Vorbeilaufenden seinen Mittelfinger entgegen hält, winkt seine Nachbarin zwei Fenster weiter freudig mit beiden Armen.
Aktivismus: Protestierende setzen ein klares Zeichen gegen den AfD-Parteitag
Noch immer werden Kreuzungen, etwa vor der Trinitatiskirche, von Aktivist*innen blockiert, damit mögliche Zufahrtswege für die AfD-Delegierten versperrt bleiben. Gegen 11 Uhr erreichen Demonstrierende aus dem lila und roten Finger den Parkplatz der Arena. Tausende weitere Teilnehmende tummeln sich bereits auf der großen Fläche zwischen Informationsständen und einer Bühne. Gerade spielt die Bremer Punkrockband “Team Scheiße” und sorgt für Stimmung. Hier gibt es ein Wärmezelt und Dixie-Toiletten. Gegen Mittag sind nach Angaben von “Widersetzen” 15.000 Menschen vor Ort und die Halle, in der der Bundesparteitag abgehalten werden soll, ist noch immer leer. Ganz verhindert wird der AfD-Parteitag nicht. Mit Verspätung kann die Partei ihre Versammlung beginnen und wählt Alice Weidel zur Spitzenkandidatin für die kommende Bundestagswahl. Trotzdem zeigt sich das Aktionsbündnis zufrieden: “Bisher war die Veranstaltung ein voller Erfolg. Wir haben mit zigtausend Menschen die Zufahrtswege blockiert und die AfD so daran gehindert, ihre rassistische Hetze weiter zu verbreiten”, sagt Sina Reisch, Sprecherin von “Widersetzen”.
Auf diese Weise hätte man schon gegen den AfD-Parteitag in Essen protestiert. Viele der Demonstrierenden waren damals dabei, so auch Dana aus Bochum: “Mir ist es einfach wichtig aufzustehen. Ich kann nicht mehr ruhig zu Hause sitzen, ohne etwas zu tun.” Die politischen Entwicklungen machen der zweifachen Mutter Angst. “Ich hätte gern eine demokratische Zukunft für meine beiden Kinder.” Für Diana aus Leipzig ist die AfD keine demokratische Partei: “Es kann nicht sein, dass diese Partei im Bundestag sitzt und so viele Prozentstimmen bekommt.” Heute müsse ein Zeichen gesetzt werden, da sind sich die Aktivist*innen einig. “Wir wollen zeigen, dass sich die AfD nicht unwidersprochen und unwidersetzt treffen kann”, sagt Sina Reisch.
Während weiterhin Bands auf der Bühne spielen, entfernen sich einige der Teilnehmenden vom Vorplatz der Arena. Sie wollen zu anderen Straßenblockaden, um die Widersetzer*innen vor Ort zu unterstützen. Andere steuern den Bahnhof an. Das frühe Aufstehen und Demonstrieren bei Minusgraden sind Kräfte zehrend. Viele wollen jetzt nach Hause. Doch wer zurück zum Bahnhof will, hat es nicht leicht. Über die vorgeschlagene Google-Maps-Route gelingt der Rückweg nicht, denn sämtliche Straßenkreuzungen sind gesperrt. Am Bahnhof angekommen, stehen noch immer Einsatzkräfte um den Bahnhofsbereich und auf den Gleisen. Wie bei der Anreise ist der Zug sehr voll, doch es bleibt friedlich. In den müden und frierenden Gesichtern macht sich ein Ausdruck der Erleichterung breit. Es war wichtig, heute dagewesen zu sein, sagt jemand, als der Zug seine Türen schließt und aus dem Riesaer Bahnhof rollt.
Titelbild und Fotos: ab
Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.