Wir sollen wieder unsichtbar sein
Die Trends der 2000er-Jahre sind zurück – und mit ihnen gefährliche Schönheitsideale. Von #Allbodiesarebeautiful, Abnehmspritzen und Antifeminismus.
Triggerwarnung: Dieser Text beschäftigt sich unter anderem mit Schlankheitsidealen, Untergewicht und Mangelernährung. Bitte bedenke das und achte auf dich, bevor du weiterliest.
Es mag ein Klischee sein. Doch nach den Feiertagen hat er sich wieder verändert: der Blick auf meinen eigenen Körper. Ich betrachte ihn kritischer. Beschämter. Etwas in mir sehnt sich nach Anpassung, Veränderung, Optimierung – sehnt sich danach, all den völlig absurden Körperbildern mehr zu entsprechen. Sehnt sich ganz still und heimlich danach, schlanker zu sein.
Moment. Stopp. Wie bitte? Wie kann das sein? In meinem Freund*innenkreis haben wir einen aufmerksamen und gesunden Umgang mit Schönheit und Gesundheit. Uns ist bewusst, wie gefährlich das Schlankheitsstreben sein kann. Wir achten aufeinander, sprechen über Sorgen, können die Zweifel an uns selbst auf eine gesellschaftliche Ebene übertragen. Wir erkennen, was Leistungsstreben, Optimierungsdruck und Objektifizierung von Frauen mit dem eigenen Körperbild zu tun haben. Kurz, wir reflektieren ganz viel. Wie kann es sein, dass sich mein Blick dennoch nach einem anderen Spiegelbild sehnt? Stimmt mein Gefühl, dass diese Sehnsucht in der letzten Zeit wieder lauter wird? Und stimmt es, dass sich auch verändert hat, was mein Algorithmus mir in meinen Feed spült?
Vergangene Kämpfe
Ja, Dünnsein um jeden Preis – es scheint wieder da zu sein. Aber zuerst ein Blick zurück. Wie sind wir hier gelandet? Haben wir nicht in dem letzten Jahrzehnt so viele Kämpfe für wirkliche mentale und körperliche Gesundheit, für die Akzeptanz von allen möglichen Körperformen erlebt und vielleicht auch selbst gekämpft?
Da ist (war) die Body-Positivity Bewegung. Hashtags wie #Allbodiesarebeautiful gingen viral. Wir sahen mehr Diversität von Körperformen in Magazinen, auf den Laufstegen, im Fernsehen. Curvy Models wurden zu Vorbildern. Die Diskriminierung mehrgewichtiger Personen wurde verstärkt diskutiert und als solche benannt, der Begriff Fatshaming gewann an Popularität, erhielt Einzug in unseren alltäglichen Sprachgebrauch.
Dann mehrte sich die Kritik an der Umsetzung der Body-Positivity von den Medien und der Fashionindustrie. Sie sei noch immer exklusiv, bilde nicht wirklich alle Körperformen ab, sondern schaffe schlicht neue Ideale, denen nicht alle Menschen entsprechen können. Entweder superschlank oder curvy – auch das ist nicht jeder. Es folgte also die Body Neutrality. Hier geht es darum, dass wir alle am besten in unseren Körpern existieren, ohne ihr Aussehen ständig übermäßig zu fokussieren. Die Form unseres Körpers solle keine Rolle spielen, es ginge stattdessen um seine Gesundheit und Funktionsfähigkeit – das und nur das müsse von den Medien und der Industrie anerkannt und abgebildet werden. Der Body Neutrality geht es darum, dass unser Körper das ist, was uns durch das Leben trägt und dass das genügt. Dass er nichts entsprechen muss, wir unsere Körper nicht ständig besprechen müssen. Dass allein das wirklich inklusiv sein kann.
Backlash
Und jetzt? Als wären all diese Kämpfe aus dem kollektiven Bewusstsein ausradiert worden, zeigt der Size Inclusivity Report von Vogue Business nun, dass 95 Prozent der Models auf den Laufstegen der größten Fashionweeks in die geringste der drei Gewichtskategorien fallen, der Großteil von ihnen im extrem dünnen Bereich liege.
Spätestens seit 2024 sind die Trends der 2000er voll und ganz zurück. Sogar Tokio Hotel ist mit den Kaulitz-Brüdern wieder da. Es bestand die Hoffnung, dass wir die Mode- und Musiktrends wieder aufleben lassen würden – das gestärkte Bewusstsein für mentale Gesundheit und die Aufmerksamkeit für Body-Shaming aber beibehalten könnten und, anders als in den 2000ern, eben auf die eigene Gesundheit achten. Es blieb bei der Hoffnung. Stattdessen ist er zurück: der Heroin-Chic.
Schönheitsideal Suchterkrankung
Heroin-Chic – was für ein furchtbarer Begriff. Er wurde Anfang der 1990er Jahre populär und war maßgeblich geprägt von dem Fashionfotografen Davide Sorrenti, dessen Fotos den Look blasser Haut und extrem dünnen Körpern zum Trend machten.
Heute sehen wir diesen Trend wieder. Das zeigt sich nicht nur auf Laufstegen und in Modemagazinen. Der Hype um Ozempic ist das Sinnbild des wiedergekehrten Schlankheitswahn(sinn)s. Ozempic ist eigentlich ein Medikament für Menschen mit Diabetes Typ 2, funktioniert aber durch seine appetitzügelnde und magenentleerende Wirkung auch als Abnehmdroge. Ozempic ist nicht nur unsagbar teuer, sondern auch gefährlich. Neben Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen, Verstopfung, Durchfall und in manchen Fällen Bauchspeicheldrüsenentzündungen, erhöht das Medikament laut US Arzeneimittelbehörde FDA auch das Schilddrüsenkrebsrisiko.
Gesund ungesund
Eine Sache allerdings hat sich im Gegensatz zu den 1990ern und frühen 2000ern verändert. Vielleicht sind die Body-Positivity und Body-Neutrality doch nicht gänzlich verschwunden. Denn wir erleben heute nicht die Offensivität des Appells „Sei dünn – um jeden Preis!“ wie vor 25 Jahren. Die Worte von Kate Moss „Nothing tastes as good as skinny feels“ würden unseren Schönheitsikonen nicht mehr über die Lippen gehen. Zumindest nicht öffentlich. Heute wird uns in sozialen Medien ein vermeintlich gesunder Lebensstil vorgelebt: Abnehmen? Ja, aber nicht durch Hungern, sondern mit farbenfrohen Bowls und selbstgemachtem Protein-Mandel-Cookie-Dough-Wie-auch-immer. „Fühl dich wohl in deinem Körper“ und „Du bist schön wie du bist“ steht in den Captions auf Instagram und TikTok. #Allbodiesarebeautiful gilt noch immer. Wir sollen uns noch immer unabhängig von unserer Körperform wohlfühlen und bekommen gleichzeitig ganz subtil vermittelt, dass wir uns mit weniger Gewicht noch sehr viel wohler fühlen könnten. Dass wir wirklich endlich perfekt wären, wenn wir extrem dünn sind und dennoch „normal“, „gesund“ und „ausgewogen“ essen.
Wir waren zu laut mit unserem Feminismus
Ich glaube, diese Entwicklungen sind nicht allein der wiedergekehrten 2000er-Mode zuzuschreiben. Wir sollen wieder dünner sein. Und „wir“, das bedeutet hier – wir Frauen. Nicht nur weibliche Personen leiden unter dem Schönheitsdruck. Auch männlichen Personen werden Körperbilder vermittelt, die einen unglaublichen Fokus auf Ernährung und intensiven Sport verlangen und keinen gesunden und wirklich balancierten Lebensstil erlauben – das ist richtig. Doch dieser Trend der extremen Schlankheit, einer Schlankheit, die extremes Hungern erfordert, richtet sich vor allem an weibliche Körper. Weibliche Körper sollen hauchdünn sein. Eben so dünn, dass man sie weghauchen kann. Dass Körper und Stimme verschwinden. Wir leben in einer Zeit, in der antifeministische Stimmen in rasanter Geschwindigkeit wieder an Macht gewinnen. Die weibliche öffentliche Präsenz – sie soll bitte wieder verschwinden.
Nicht zu essen, das bedeutet Erschöpfung, Frieren, verringerte Konzentrationsfähigkeit und führt irgendwann zu Haarausfall und Organschäden. Hungern kann lebensgefährlich sein.
Es ist in derart komplexen, konfliktreichen politischen Zeiten, in denen populistische, antidemokratische, rassistische und misogyne Kräfte stark wie nie zuvor scheinen, von immenser Wichtigkeit, auf den eigenen Kopf und Körper Acht zu geben. Auf uns und unsere Mitmenschen aufzupassen. Kämpfe gegen diskriminierende frauenunterdrückende Strukturen, Kämpfe zur Erhaltung einer demokratischen Gesellschaft können nicht hungrig geführt werden – sie kosten Kraft, sie brauchen Zucker, sie brauchen Fett, sie brauchen unsere Gesundheit. Sie brauchen unsere Körper – über die nur wir allein die Macht haben dürfen.
Fotos: privat
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