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  • Von Sylt bis nach Halle: Gigi nicht den Nazis überlassen

    Was haben Springerstiefel, Lonsdale und 2000er-Popsongs gemeinsam? Vereinnahmung durch Rechtsextreme. Kolumnist*in Jo debattiert wie man damit ohne Boykott umgehen sollte.

    Nachdem ich im Oktober mein neues Studium in Halle begonnen habe, bleibe ich auch hier nicht von der Prüfungsphase verschont. Zwischen den Stapeln an Vorlesungsnotizen, halb-beantworteten Probeklausuren und prokrastinatorisch geöffneten Wikipediaartikeln an meinem Laptop ist es manchmal verlockend, sich an die Erstiwochen zu erinnern. Eine schönere Zeit. Eine einfachere Zeit. Eine Zeit der Club- und Spätitouren, nur manchmal unterbrochen von semi-wichtigen Einführungsveranstaltungen.

    Während der vom Stura der Uni Halle organisierten Clubtour zu Beginn des Semesters, wurde in einem Club der Song L’amour toujours von Gigi D’Agostino gespielt. Daraufhin forderten einige Besucher einen Boykott des Clubs, während eine anwesende Männergruppe sogleich die Gelegenheit nutzte, um ihre Ausländerfeindlichkeit öffentlich zur Schau zu stellen und eine geschmeidige Nazi-Grußformel über den Dancefloor zu brüllen. Durch den Songs scheinen zwei Fronten aufeinandertreffen zu treffen: diejenigen, die ihn als Einladung verstehen, ihr rechtsextremes Gedankengut offen zur Schau zu stellen, und diejenigen, die allein in dem Song bereits einen Angriff auf eine freie und tolerante Gesellschaft sehen.

    Der „Song aus dem Sylt-Video“ erlangte vor einigen Monaten, 23 Jahre nach erstmaligem Erscheinen, erneut Aufmerksamkeit. Wohlstandsverwahrloste Bonzenkinder grölten im Dom-Pérignon-Vollsuff klar rechtsextreme Parolen, welche in der öffentlichen Berichterstattung nur allzu gern als „ausländerfeindlich“ verharmlost wurden, über den Außenbereich einer Sylter Bar. Einige von ihnen zeigten den Hitlergruß. Die öffentliche Empörung war groß, glaubte man doch, dass Ausländerhass und Rechtsextremismus ein rein ostdeutsches Phänomen seien, ja, dass materieller Wohlstand immun mache gegen faschistisches Gedankengut. Blöd, wenn das eigene Weltbild mit der Realität konfrontiert und von dieser widerlegt wird.

    Gigi D’Agostino veröffentlichte Wochen nach dem Vorfall ein halbgares Statement. Von den rassistischen Umdichtungen will er nichts mitbekommen haben. In dem Song ginge es um die Liebe, welche „ein wunderbares, großes und intensives Gefühl [ist], das die Menschen verbindet.“ Eine klare Verurteilung oder Distanzierung von den Parolen sucht man vergeblich. Und wirklich verübeln kann ich es dem guten Mann auch gar nicht. Denn es ist wie immer, wenn etwas vermeintlich gecancelt werden soll: Es entsteht ein neuer Hype, mit dem sich fett Kohle machen lässt. L’amour toujours stieg nämlich nach dem Sylt-Video nach über 20 Jahren wieder in die Top Ten der deutschen Charts auf. Da wärst du schon sehr blöde, wenn du dein neues Fanpublikum (und damit potenziell zahlende Kundschaft) durch politische Äußerungen verärgerst.

    Dieses neue Fanpublikum ist groß. Einer der größten deutschen Gigi-Fanclubs ist die rechtsextreme Vereinigung Junge Alternative, die Jugendorganisation der AfD. Sie ließ sogar in Anlehnung an den Song T-Shirts mit dem eingängigen Döp, Döp, Döp produzieren. Aber auch andere stolze Deutsche outen sich als Fans des italienischen Elektro-DJs. Zum Beispiel der Karnevalsverein Elblandrevolte und die Clownstruppe der National-Revolutionären Jugend. Beide skandierten die ausländerfeindlichen Parolen beispielsweise bei ihren Auftritten auf sogenannten „Protesten“ gegen den CSD. Ausländerhass und die Verteidigung des Vaterlandes vor der „Zwangsverschwulung“ gehen hier Hand in Hand.

    Der Song wird von Rechtsextremen dazu missbraucht, die eigenen menschenfeindlichen Positionen ohrwurmgerecht in die Köpfe der Hörer einzuschleusen. Sollte man ihn mit diesem Wissen dann überhaupt noch spielen? Lädt man dadurch nicht explizit die Leute ein, die entsprechende Parolen dazu brüllen? Würde man diesen Klassiker wirklich vermissen? Gibt es denn nicht genug andere Partysongs?

    Kann man so sehen und L’amour toujours an sich könnte mir nicht egaler sein. Aber ich bin trotzdem gegen ein Verbot oder einen Boykott des Songs. Ihn nicht mehr zu spielen, ist ein Zeichen der Kapitulation. Es zeigt rechten Akteuren, dass nahezu kampflos alles aufgegeben wird, was irgendwie mit Rechtsextremismus in Verbindung gebracht werden kann, und bestärkt sie in ihrer Strategie. Selbstverharmlosung und das Tarnen hinter eigentlich harmlosen und unpolitischen Dingen sind seit Jahrzehnten Teil der rechten Raumnahme. Nazis stellen sich sehr gern als Opfer dar. „Schaut mal, die bösen Linken wollen dieses total harmlose Lied, in dem es um Liebe geht, verbieten!“ Dass sie einen Song über Liebe in einen Song voller Hass umgedichtet haben, verschweigen sie lieber.

    Zwar könnte man mir jetzt vorwerfen, dass ich das Gedankengut jener Nationalsozialisten teilen würde, da ich selbst gelegentlich mit Springerstiefeln und etwas zu kurzen Haaren durch die ostdeutsche Provinz stapfe, aber hier handelt es sich um ein ähnliches Phänomen:

    Der Song ist nicht das Problem. Das Problem ist das, was Nazis daraus machen wollen.

    Springerstiefel sehen martialisch aus und kommen aus dem Militär. Jedoch finden sie nicht nur bei frustrierten 90er-Jahre-Kids mit zu viel Tagesfreizeit Anklang, sondern auch bei Goths, Punks, Skin- und Metalheads.

    Kurze Haare stammen aus der Oi-Szene – vielen eher als Skinheads bekannt – einer eher unpolitischen bis linken Subkultur mit Ursprüngen in der Londoner Arbeiterklasse.

    Nazis haben diese Elemente für sich vereinnahmt, haben aktiv versucht, Jugend- und Subkulturen zu unterwandern und in ihrem Sinne zu beeinflussen. Lässt man das zu, indem man eigentlich harmlose Songs, Subkulturen, Marken oder Begriffe boykottiert, haben sie ihr Ziel erreicht. Auch heute noch wird „Skinheads“ als Synonym für „Neonazis“ verwendet, obwohl die mittlerweile eher auf Anzughose, Hemd und Jackett statt Kahlrasur, Springerstiefel, Blue Jeans und Bomberjacke setzen. Vielmehr inszenieren sie sich als konservative Intellektuelle, anstatt als jugendliche Raufbolde mit großem Bierdurst.

    Ein positives Beispiel, wie man mit rechten Vereinnahmungsversuchen umgehen kann, ist die englische Sportbekleidungsmarke Lonsdale. Aufgrund des NSDA-Schriftzugs im Namen (in Anlehnung an NSDAP) war sie insbesondere in den 1990er-Jahren bei rechten Skinheads sehr beliebt. Von diesem Image als Nazi-Marke wollte sich Lonsdale lösen. Sie distanzierte sich von rechtsextremem Gedankengut, beliefert keine Läden mehr, die von Neonazis betrieben werden und fördert seitdem antirassistische Projekte, Vereine und Initiativen. Dieser Schritt barg jedoch auch ein hohes Risiko. Er bedeutete großen Umsatzverlust. Allein in Sachsen brach der Umsatz laut Angaben des Unternehmens um 75 Prozent ein. Aber die Distanzierung zeigte Wirkung: Die rechtsextreme Szene reagierte mit Boykottaufrufen. Die Baseballschlägerteams stiegen in der Folge vermehrt auf Eigenmarken wie Consdaple um, bei der NSDAP nicht nur in den Köpfen der Kunden, sondern auch vollständig im Namen steckt.

    Wie man am Beispiel Lonsdale sehen kann, ist es möglich, sich gegen rechtsextreme Vereinnahmung zu wehren. Und wenn Gigi das nicht tun will, dann müssen wir das halt selbst erledigen. Daher ist mein Vorschlag: Spielt diesen Song weiter! Die Idioten werden sich letztlich selbst enttarnen. Spielt diesen Song weiter und wenn dazu jemand rassistische Parolen grölt, lasst ihn vom Clubpersonal rausschmeißen!

    Konsequent gegen Nazis zu sein bedeutet nicht, sich schnellstmöglich von allem zu distanzieren, was Nazis für sich vereinnahmen wollen. Konsequent gegen Nazis sein bedeutet, sich solchen Vereinnahmungsversuchen zu widersetzen. Selbst wenn es sich dabei um maximal mittelmäßige Elektropop-Songs aus den frühen 2000ern handelt.

    Fotos: Privat

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