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  • #Reclaimtiktok – Wer gewinnt den Kampf um die digitale Deutungsmacht?

    Mit #Reclaimtiktok wehren sich Nutzer*innen gegen die rechte Dominanz auf der Plattform. Gelingt die digitale Gegenoffensive – und welche Rolle spielen dabei die Parteien?

    „Echte Männer sind rechts“, sagt Maximilian Krah und blickt in die Kamera. In einem Tiktok-Video gibt der AfD-Politiker Ratschläge an junge Männer, die keine Freundin finden. Neben der rechten Gesinnung empfiehlt er ihnen, keine Pornos zu schauen und nicht die Grünen zu wählen, dann würde es auch mit der Freundin funktionieren. Auf Tiktok wurde der Beitrag bereits 1,6 Millionen Mal aufgerufen (Stand: 14. Februar 2025).

    Vielen Tiktok-Nutzer*innen könnten Clips wie dieser bekannt vorkommen und das nicht ohne Grund: Kaum eine Partei ist auf Tiktok derzeit so erfolgreich wie die AfD. Das Forschungsprojekt SPARTA der Universität der Bundeswehr München erhebt die Social-Media-Präsenz der sieben großen deutschen Parteien in Echtzeit. Demnach war die AfD mit ihren Accounts zwischen Dezember 2024 und Februar 2025 die reichweitenstärkste Partei auf der Plattform. Mit 131 Millionen Klicks wurde ihr Content von Nutzer*innen am meisten aufgerufen. Die Linke folgt mit 111 Millionen Aufrufen, während die Union, die derzeit bei Umfragen vorne liegt, nur auf 57 Millionen Aufrufe kommt.

    Bei den Likes ist die Linke auf der Plattform mit 14 Millionen am populärsten, während die AfD mit 11 Millionen Likes den zweiten Platz belegt. Damit erhalten die beiden Parteien zwischen Dezember und Februar mehr als die Hälfte der gesamten Likes aller sieben großen Parteien. Besonders auffällig ist die Anzahl der Beiträge: Die AfD hat mit 4.535 Posts etwa ein Drittel der gesamten Beiträge der großen Parteien auf Tiktok veröffentlicht (Stand: 14. Februar 2025).

    Für die Dominanz rechter Positionen in den sozialen Medien gäbe es mehrere Erklärungsansätze, erläutert Charlotte Meier. An der Universität Leipzig forscht sie zu sozialen Bewegungen, Populismus und politischer Kommunikation. Zum einen gehe die Zunahme rechter Positionen in den sozialen Medien mit einem deutlichen gesellschaftlichen Rechtsruck in den letzten Jahren einher. Zum anderen habe die AfD das Potenzial von Social Media früher als andere Parteien erkannt und sich damit einen entscheidenden Vorsprung in der gezielten Nutzung von Social Media verschafft. Auch die Funktionsweise des Algorithmus setze die Partei geschickt ein: Inhalte der AfD werden „von rechten Influencer*innen und Unterstützer*innen geteilt, sodass diese im Gegensatz zu anderen Inhalten oft eine höhere Reichweite erzielen“, erklärt Meier.

    Dass politische Inhalte in den sozialen Medien die Meinungsbildung junger Menschen beeinflussen, zeigen Forschungsergebnisse der Landesanstalt für Medien NRW vom Dezember 2024. Demnach sind soziale Netzwerke für Jugendliche die wichtigste Informationsquelle zu politischen Themen. Entsprechend werben die Parteien dort gezielt um Aufmerksamkeit und Stimmen.

    Tiktok nicht den Rechten überlassen

    Die Freundesgruppe um Magdalena Hess und Theresia Crone ist vor der Europawahl 2024 über diese Vorherrschaft rechter Inhalte auf der Plattform besorgt. Sie befürchten, rechte Kurzvideos könnten das Wahlverhalten junger Menschen prägen und initiieren die Kampagne #Reclaimtiktok. Ziel der Aktion sei, dem rechten Content auf der Plattform progressive Stimmen entgegenzusetzen. Oder einfach ausgedrückt: Tiktok zurückzuerobern. Man wolle verhindern, dass unter jungen Menschen der fälschliche Eindruck entstehe, AfD-Positionen seien in der Mehrheit, so Magdalena Hess, Haupt-Initiatorin der Kampagne. Dafür animiert sie junge Nutzer*innen, „die Plattform Tiktok mit massenhaft progressivem Content [zu fluten]“.

    Die Gruppe hinter #Reclaimtiktok ist nicht neu in der aktivistischen Szene, sondern kann bereits auf langjährige Erfahrungen im Engagement für die Klima-Bewegung Fridays for Future zurückgreifen. Neu sei für sie aber der digitale Protest, erzählt Theresia Crone. Die 22-jährige ist Teil der Kampagne. Obwohl sie bereits seit sechs Jahren aktivistisch tätig ist, hätte sie zu Beginn der Kampagne lernen müssen, welche Posts bei Nutzer*innen gut ankommen. So stellte sie fest, dass vor allem humorvolle und unterhaltsame Videos Aufrufe bekämen, während rein argumentative oder informative Videos weniger Aufmerksamkeit erhalten würden. Crone kann das nachvollziehen, „weil das ganz ehrlich auch nicht der Content ist, den ich gucken will.“

    Ein großer Vorteil des digitalen Engagements sei die große Reichweite – unter ihren Followern seien sogar Menschen aus Amerika, erzählt sie. Außerdem könnten die Inhalte dazu beitragen, dass sich Menschen mit ihrer progressiven Haltung nicht allein fühlen. Crone will sich aber nicht zwischen Online- und Offline-Protest entscheiden: Sie engagiert sich weiterhin auf Demonstrationen und in Gesprächen mit Abgeordneten.

    Politische Einheit hinter #Reclaimtiktok?

    Crone zufolge seien seit Beginn der Kampagne über 1.000 Accounts regelmäßig unter dem Hashtag aktiv gewesen. Man habe außerdem andere Parteien und Abgeordnete auf die Plattform gebracht, das verzeichnet die Aktivistin als Erfolg der Kampagne. Auch auf dem Account der FDP-Abgeordneten Strack-Zimmermann finden sich Videobeschreibungen wie „#Reclaimtiktok“ oder „#Noafd“. Ob die FDP Teil einer progressiven Gegenmacht auf Tiktok sein kann? Crone äußert dazu ambivalente Gefühle.  Einerseits sei es wichtig, „dass es stabil demokratisch liberale oder stabil demokratisch konservative Stimmen gibt“, andererseits ist für Crone in Zeiten der Brandmauer-Debatte fraglich, ob diese Stimmen in der FDP und Union noch zu finden seien.

    Während Strack Zimmermann als FDP-Abgeordnete an der Kampagne teilnimmt, verkündet Initiatorin Magdalena Hess im Januar 2025 auf ihrem Account, dass sie bei der anstehenden Bundestagswahl die Grünen wählen wird. Das wirft die Frage auf, was Nutzer*innen von #Reclaimtiktok inhaltlich eint. Gibt es geteilte politische Visionen über die gemeinsame Ablehnung rechter Positionen hinaus? Crone zufolge sei die ursprüngliche Idee gewesen, sich gegen rechts zu positionieren, man wolle aber auch eigene Ideen und Werte weitervermitteln. Sie findet, dass progressive Stimmen auf der Plattform durchaus inhaltlich variieren könnten, denn die Beteiligten würden dennoch die Überzeugung teilen, dass „Menschenrechte quasi bedingungslos gelten und die Menschenwürde unantastbar ist.“

    Dozentin Meier erklärt, dass eine reine Opposition zu rechten Positionen zu Beginn ausreichen könne, um als Protest auf der Bildfläche zu erscheinen. Gleichzeitig warnt sie, nur „dagegen“ zu sein rücke rechte Narrative in den Fokus. Für eine langfristige Bewegung brauche es eigene Schwerpunkte und Gegennarrative. Dadurch könne man dann auch Personen mobilisieren, die sich bei einem reinen „dagegen“ nicht angesprochen fühlen würden. Dabei dürfe inhaltlich nicht zu breit gestreut werden sagt Meier, es müsse deutlich bleiben, „wofür die Bewegung steht und was ihre Ziele sind.“

    Niedrigschwelliger Protest oder Performanz?

    Crone und ihre Freundesgruppe werben um Unterstützung, indem sie Nutzer*innen dazu aufrufen, eigene Videos unter dem Hashtag hochzuladen. Wer selbst keine Videos teilen will, dem empfiehlt Crone, progressive Beiträge durch Likes oder Kommentare zu unterstützen. Was rechten Content betrifft, schade es nicht, eine Diskussion zu starten, aber Crone sagt auch „in vielen Fällen kostet das mehr Energie als es nützt.“ Sinnvoller sei es, das Gespräch im eigenen Umfeld zu suchen, etwa mit Nachbar*innen oder Arbeitskolleg*innen, die die AfD unterstützen. So würde man eher noch Menschen umstimmen als im Internet, glaubt sie. Für den Umgang mit strafbaren Inhalten rät Crone den Nutzer*innen, diese auf dem Internetportal Hessen gegen Hetze zu melden.

    Meier hat in Ihrer Forschung zu Protestbewegungen ähnliche Beobachtungen gemacht: „Digitaler Aktivismus ist in der Regel keine alleinstehende Vorgehensweise, sondern vielmehr ein Instrument, das Aktivist*innen neben anderen Offline- und traditionellen Methoden einsetzen, um ihre Ziele zu erreichen“. Vorteilhaft am digitalen Aktivismus sei die Möglichkeit, mit geringem Aufwand und persönlichem Einsatz aktiv zu werden – zum Beispiel, wie Crone empfiehlt, durch die Unterstützung eines Beitrages oder der Verwendung eines bestimmten Hashtags. Das ermögliche es Menschen, die ansonsten nicht politisch aktiv geworden wären, sich zu beteiligen. Gleichzeitig könne diese Form politischer Partizipation jedoch performativ sein, ganz nach dem Motto: „ich teile etwas und drücke meine Unterstützung aus, ohne weiter aktiv zu werden oder etwas an mir und meinem Verhalten zu ändern“, fügt Meier hinzu.

    Wurde Tiktok erfolgreich „zurückerobert“?

    Nach mehreren Monaten von #Reclaimtiktok zieht Crone eine positive Bilanz: Die digitale Gegenoffensive habe sowohl private Nutzer*innen als auch demokratische Parteien zu mehr Präsenz auf Tiktok ermutigt. Damit sei auch ein Diskurs zur Social-Media-Strategie der extremen Rechten angestoßen worden. Allerdings sei die Kampagne sehr anstrengend gewesen, die Konfrontation mit Hass im Netz emotional belastend. Vor der Bundestagswahl wollen die Aktivist*innen trotzdem nochmal alle Kräfte sammeln, um Videos für die Plattform zu produzieren.

    Auch Meier bestätigt, dass die Kampagne mit knapp 72.000 Videos unter dem Hashtag durchaus Resonanz gefunden habe und damit einen Beitrag zum gesetzten Ziel – der „Zurückeroberung“ von Tiktok – beitragen konnte. Um eine breite öffentliche Wirkung zu erzielen, müsse eine Kampagne aber auch offline Resonanz finden. Das geschehe in der Regel dadurch, dass Kampagnen von traditionellen Medien aufgegriffen würden.

    Meier nennt die #Metoo-Bewegung als Online-Bewegung der das gelungen sei. Die Bewegung habe eine große mediale Reichweite erzielt, und so zu einem erhöhten Bewusstsein zum Thema sexuelle Gewalt geführt. Auch #Reclaimtiktok habe das Potential, die öffentliche Meinungsbildung zu beeinflussen. Bisher konnte die Kampagne den breiteren öffentlichen Diskurs allerdings nicht erreichen, findet Meier. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Kampagne nur auf eine bestimmte Social-Media-Plattform beschränkt ist.

    Titelgrafik: Antonia-Wengner

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