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  • Demokratie erleben 

    Gewählt haben die meisten innerhalb von 5 Minuten. Organisieren und Auswerten benötigt allerdings mehr Zeit. Redakteurin Elisa Pechmann hat sich die Arbeit hinter der Wahl genauer angeschaut.

    Eine Woche liegt die Wahl zurück und jeder politisch interessierte Mensch ist über ihre Ergebnisse informiert. Doch was passiert eigentlich hinter den Kulissen des Wahllokals? Zwar sind die Vorgänge sehr transparent, den Wähler*innen aber oft nur wenig bewusst. luhze hat sich den Wahlprozess einmal genauer angeschaut. 

    Einige Tage vor der Bundestagswahl ist der Sitzungssaal im Neuen Rathaus in Leipzig gefüllt. Auf den im Halbkreis angeordneten Tischen befinden sich je drei Knöpfe mit der Aufschrift „Ja“, „Nein“ oder „Enthaltung“. Doch dahinter sitzen keine Stadtratsabgeordneten, um über kommunalpolitische Entscheidungen abzustimmen. Stattdessen sitzen hier freiwillige Wahlhelfer*innen, die ermöglichen wollen, dass die 455.000 Leipziger Wahlberechtigten über den zukünftigen Bundestag mitentscheiden können. 

    Hinter dem Rednerpult steht Frau Schultz vom Amt für Statistik und Wahlen der Stadt Leipzig, dass für die Durchführung, Organisation und Veröffentlichung der Ergebnisse von Wahlen verantwortlich ist. Über Schultz leuchtet auf einer angestrahlten Präsentation groß das Wort „Wahlhelferschulung“. Herzlich und dankbar leitet sie die Veranstaltung ein: „Ohne Wahlhelfende gibt es schließlich keine Wahl.“ 

    In diesem Jahr sei die Bereitschaft sehr hoch gewesen. Man hatte von den 9.000 Freiwilligen sogar Leute abweisen müssen, da insgesamt nur zwischen 5.000 und 6.000 benötigt werden. „In so einer Situation waren wir noch nie“, sagt Schulz. „Das ist ein gutes Zeichen für die Demokratie.“ In jedem der 414 Wahlbezirke gibt es ein eigenes Team, einen Wahlvorstand, der aus acht Wahlhelfenden besteht. Einer*einem Wahlvorsteher*in mit Stellvertreter*in, einer*einem Schriftführer*in und fünf Beisitzer*innen. Das Team bereitet am Morgen das Wahllokal vor und arbeitet während des Wahlzeitraums von 8 bis 18 Uhr in  Schichten. Dann zählt der gesamte Wahlvorstand gemeinsam die Stimmen aus. 

    Er trägt außerdem Sorge, dass Wahlstörungen verhindert werden. Die Wahl ist aus demokratischen Gründen eine öffentliche Veranstaltung und darf beobachtet werden. „Doch Wahlbeobachtung darf weder Sie bei Ihrer Arbeit noch die Wählenden bei der Stimmabgabe behindern“, so Schultz. Falls eine Person stört, haben Wahlhelfer*innen das Recht, diese des Hauses zu verweisen. „Zögern Sie dann nicht, die Polizei anzurufen“, ergänzt sie. Ebenfalls nicht toleriert werden darf Wahlbeeinflussung. Das Wahlbüro darf zum Beispiel nicht mit einem politischen Symbol auf der Kleidung betreten werden, da dies andere Wähler*innen in ihrer freien Entscheidung beeinflussen könnte.  

    Die Wahlhelfenden fragen nach genauen Grenzen der politischen Beeinflussung und ob auch das öffentliche Vertreten von Positionen, die typisch für bestimmte Parteien sind, darunter zählen. „Wenn Ihnen Fälle unklar erscheinen, müssen Sie nach dem gesunden Menschenverstand entscheiden“, antwortet Schultz. Nachdem der Wahlprozess praktisch demonstriert und das Auszählen geübt wurde, wünscht Schultz den Wahlhelfenden alles Gute für den Wahltag. 

    Bei der Wahlhelferschulung werden Wahlhelfer*innen auf ihr Ehrenamt vorbereitet.

    Vor dem Wilhelm-Ostwald-Gymnasium in Lößnig stehen ein paar junge Leute, die rauchen und quatschen. „Soll man rechts oder links reingehen?“, fragt einer von ihnen. „Je nach dem, was man wählt“, scherzt eine andere. 

    Heute laufen auch viele ältere Menschen auf das Schulgebäude zu, manchmal allein, manchmal in Begleitung. Sie sind nicht nur unterwegs, weil das schöne Wetter zu einem Spaziergang einlädt. 

    ***

    Am Wahltag sind in den Klassenräumen des Gymnasiums die Wahlräume von sechs Wahlbezirken eingerichtet. An den Wänden des Raums, in dem einer der Bezirke seine Stimme abgeben darf, kleben Sterne und Planeten. Über den drei Wahlkabinen, aus einem Sichtschutz und einer Schulbank erbaut, hängen Papierwolken. Trotz dieser spielerischen Atmosphäre sind die vier anwesenden Wahlhelfer*innen hochkonzentriert. Schließlich tragen sie dafür Sorge, dass die nacheinander eintrudelnden Wähler*innen rechtmäßig ihre Stimme abgeben können. Dafür kontrolliert eine Beisitzerin zunächst die Wahlbenachrichtigung, die alle Wähler*innen vom Amt für Statistik und Wahlen zugeschickt bekommen haben. Darauf ist der Wahlbezirk notiert. „Sie sind hier leider falsch, sie müssen in den Raum da drüben“, stellt sie hin und wieder klar. Wenn alles korrekt ist, händigt sie den Stimmzettel aus und die Person kann hinter einer Kabine ihre Erststimme für eine*n Direktkandierende*n und ihre Zweitstimme für eine Partei abgeben. 

    Bevor der Stimmzettel in die Urne wandert, nimmt die Schriftführerin die Wahlbenachrichtigung an sich. Sie notiert im Wählerverzeichnis, in dem alle Wähler*innen des Wahlbezirks aufgeführt sind, dass die Person ihre Stimme abgegeben hat. So wird verhindert, dass Personen mehr als eine Stimme abgeben. Betrugsversuche werden protokolliert und vom Amt für Statistik und Wahlen auch zur Anzeige gebracht. Die Schriftführerin ist schon zum zweiten Mal Wahlhelferin. „Schwierig sind manchmal Situationen, wo man sich unsicher ist, ob man sie durchgehen lässt. Wenn zum Beispiel jemand hinter der Kabine anfängt, zu telefonieren. Einmal musste ich jemanden mit einem unbedeckten Reichsadler-Tattoo rausschicken. Das ist Wahlbeeinflussung.“ 

    Etwa vier Kilometer südlich im ländlichen Dölitz befindet sich das ehemalige agra-Messegelände, bekannt als Veranstaltungsort des jährlichen Wave-Gotik-Treffen. Heute werden auf den unzähligen Tischen unter der hohen Decke der Messehallen 1 und 2 die Briefwahlstimmen aller Leipziger Wahlbezirke ausgezählt. Entsprechend geschäftig geht es zu: überall Bewegungen, Gespräche und Briefumschläge. Im hinteren Teil der Halle sind auch das Amt für Statistik und Wahlen sowie Wahlexpert*innen für die Wahlhelfenden ansprechbar. „Für die Briefwahl sind fast 1600 Freiwillige beteiligt. Von insgesamt 5100 Freiwilligen“ erzählt Ulrike Hofmann vom Wahlamt. Sie holt schnell zwei Brieföffner hervor, nach denen eine Wahlhelfer*in gefragt hat. „Mittlerweile wird deutlich mehr Briefwahl durchgeführt. Bis 2021 haben wir die Auszählung in einer Schule gemacht, das wäre heute gar nicht mehr möglich.“ Briefwahlunterlagen können vor der Wahl beantragt und an das Wahlamt verschickt oder direkt im Neuen Rathaus ausgefüllt und in den dortigen Briefkasten gesteckt werden. 

    ***

    Am Tisch eines Wahlbezirks werden gerade die eingegangen Wahlbriefe geöffnet und auf ihre Gültigkeit geprüft. Das Team besteht aus acht Wahlhelfer*innen, was laut Wahlhelferin Anja schon ein Luxus ist. Ab drei Anwesenden ist das Team arbeitsfähig. Die eigentliche Auszählung findet, wie bei der Präsenzwahl, erst 18 Uhr statt. In den Umschlägen befinden sich der Wahlschein, der für die Briefwahl beantragt werden muss, und in einem extra Umschlag der Stimmzettel. Diese Form muss unbedingt eingehalten werden, damit das Wahlgeheimnis nicht verletzt wird. „Hier sind schon mehr Fehlerquellen als bei der Präsenzwahl“, erzählt Wahlhelferin Anja. 

    Alle gültigen Wahlscheine werden gezählt und die zugehörigen Stimmen im Briefumschlag in eine Urne geworfen. Es ist sehr wichtig, dass sich nicht verzählt wird. Wenn nämlich bei der Stimmenauszählung ein Umschlag fehlt, wird es sehr hektisch. „Auch für uns Wahlhelfer ist das ziemlich komplex. Und man trägt sehr viel Verantwortung. Am Tag davor Party machen würde ich auf jeden Fall nicht“, scherzt sie. Alle bedenklichen, also womöglich ungültigen Stimmzettel werden auf einen extra Stapel gelegt. „Wir versuchen, eigentlich immer möglichst begünstigend zu werten, damit viele Stimmen gezählt werden können. Wenn zum Beispiel der Umschlag mit dem Stimmzettel nicht komplett verschlossen ist, das Wahlgeheimnis aber dennoch gewahrt wurde, können wir ihn wieder zu kleben und in die Urne werfen. Oh, jetzt muss ich weiterarbeiten.“ 

    Die Vorsteherin hat mittlerweile die bedenklichen Wahlbriefe vor sich ausgebreitet, die nun diskutiert werden sollen. 

    „Bei dem fehlt die Unterschrift auf dem Wahlschein“, erklärt sie ihrem Team. „Gültig oder nicht gültig?“ 

    „Nicht gültig“, entscheidet das Team einstimmig. 

    „Und hier ist der Stimmzettel nicht extra eingepackt.“ 

    „Auch nicht gültig.“ 

    „Die Entscheidung über die Gültigkeit ist immer ein demokratischer Akt“, erklärt Anja. „Es ist ja auch ein hoher demokratischer Dienst, bei der Wahl zu helfen.“ 

    „Pause!“, gewährt die Vorsitzende nun. Doch das Team entscheidet sich, zur Sicherheit alles nochmal zu zählen, um sich danach beruhigt an den Food-Ständen draußen eine Stärkung holen zu können. 

    ***

    Währenddessen ist es im Wahlbüro in Lößnig meist ruhig verlaufen. Eine Person musste hinausgeschickt werden, weil sie eine Jacke mit einem politischen Symbol trug. Ernsthafte Wahlstörungen musste die stellvertretende Wahlvorstehende aber nicht protokollieren. 

    Kurz nach 18 Uhr ist das Team wieder vollständig und der Raum wird umgebaut, denn die Wahl ist nun offiziell beendet. Die Schulbänke werden zu einer großen Tafel zusammengeschoben. Etwas Spannung liegt in der Luft, als die nun deutlich schwerere Wahlurne aufgeschlossen wird. Gemeinsam wird sie angehoben und ausgekippt – die Stimmzettel verteilen sich flatternd auf den Tischen. 

    Koordiniert durch die Wahlvorsteherin wird das Zettelchaos von den Wahlhelfenden in die systematische Anordnung von Zehner-Stapeln gebracht und gezählt. Parallel dazu zählt auch die Schriftführerin, wie viele abgegebene Stimmen sie protokolliert hat. Sobald die Ausgangszahl steht, können die Erst- und Zweitstimmen ausgezählt werden. 

    Bald liegen nur noch die bedenklichen Stimmzettel, deren Gültigkeit noch geprüft werden muss, auf dem Tisch. Wenn Stimmzettel nicht anonym sind, wenn sie mit verfassungsfeindlichen Symbolen beschrieben wurden oder wenn unter Vorbehalt gestimmt wurde, sind sie immer ungültig. Abzuwägen ist, wenn zum Beispiel eine Stimme korrigiert wurde. Die Wahlvorsteherin zeigt den ersten bedenklichen Zettel nach oben: „Hier sind zwei Parteien als Zweitstimme angekreuzt wurden.“ 

    „Ungültig“, entscheidet das Team, schließlich haben alle Wähler*innen nur eine Zweitstimme. 

    „Hier wurde ein Kreuz durchgestrichen und ein neues ergänzt.“ 

    „Der Wählerwille ist erkennbar. Von daher gültig.“ 

    Das Ergebnis gibt die Wahlvorsteherin über ein Tastenhandy, das aus Datenschutzgründen genutzt werden muss, an die Schnellmeldung weiter. 

    „Schönen Abend noch“, wünscht sie erleichtert. Morgen wird ein höherer Wahlvorstand alles nochmal zählen, doch ihr Team hat seine Arbeit für heute getan. 

     

    Fotos: Elisa Pechmann

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