„Für mich ist Prostitution ein Symptom von Kapitalismus und Patriarchat“
Prostitution bleibt Streitthema. Oft stehen sich dabei Sorge um Ausbeutung und die Verteidigung von Selbstbestimmung gegenüber. Aktivistin Lensi Schmidt erzählt, was sie sich für den Diskurs wünscht.
Lensi Schmidt ist Soziologin und Mitgründerin des Medienkollektivs Studio Rot, das unabhängige, links-politische Podcast-Formate produziert. Vorher hat sie mehrere Jahre in einer Beratungsstelle für Sexarbeiterinnen gearbeitet. Auf ihrem Instagram-Kanal teilt sie feministische Textbeiträge und veröffentlicht im März 2025 ihr erstes Buch mit dem Titel „Ich als Feminist … – 70 Dinge, die wir bei Männern nicht mehr ertragen“. Im vergangenen Dezember ist sie als Referentin im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Sex kaufen? – Von der Kontroverse zur Diskussion“ im Conne Island aufgetreten und hat mit luhze-Redakteurin Caroline Tennert gesprochen. Es geht um Prostitution, den feministischen Diskurs und die Möglichkeit, Männer kollektiv zu bestreiken.
luhze: Finden Sie, dass sich alle Menschen eine Meinung zum Thema Prostitution bilden sollten?
Schmidt: Eigentlich haben alle eine Meinung zum Thema Prostitution, aber meist ohne sich damit auseinandergesetzt zu haben. Ich finde, man sollte sich sehr viel mehr damit beschäftigen, weil es uns alle betrifft.
Inwiefern betrifft Prostitution uns alle?
Unsere Solidarität gilt ja allen Frauen. Manche Frauen fallen aus verschiedenen Gründen durch das System, zum Beispiel aufgrund von Armut oder Krankheiten. Es sind häufig Frauen mit ökonomischen Nöten, die zur Prostitution gelangen, um überhaupt irgendwie überleben zu können. Oder Frauen, die sich aus noch stärker patriarchal geprägten Ländern durch Prostitution emanzipieren. Das ist ein großes Dilemma. Ich finde, da reicht es einfach nicht, nur zu sagen: „Ich bin für oder gegen Sexarbeit“, sondern es ist wahnsinnig komplex.
Woher stammt Ihre Expertise zu dem Thema?
In Schleswig-Holstein habe ich in einer Beratungsstelle für Sexarbeiterinnen gearbeitet. Die hat sich nur an Cis- und Transfrauen gewendet. Diese Beratungsstelle hieß Frauennetzwerk zur Arbeitssituation. Dort waren mehrere Beratungsfelder angesiedelt, unter anderem eben auch die Beratungsstelle für Sexarbeiterinnen. Dort habe ich fast drei Jahre lang gearbeitet.
Eigentlich habe ich Soziologie und Medienwissenschaften studiert, war dann aber dort eher in der sozialen Arbeit tätig und habe aber auch viel politische Vernetzung gemacht, also Lobbyarbeit. Ich habe zum Beispiel mit Behörden und Politikern auf Landes- und Bundesebene gesprochen.
Hatten Sie dabei das Gefühl, dass euch in der Beratung die notwendigen Mittel zur Verfügung standen, um den Frauen bestmöglich zu helfen?
Nein, so wie auch in anderen Tätigkeitsfeldern in der sozialen Arbeit bekämpft man auch bei der Beratung von Sexarbeiterinnen nur die Symptome. Man hilft hauptsächlich bei Problemen mit Behörden.
Sexarbeiterinnen sind zum Beispiel auch steuerpflichtig. Man hilft also möglicherweise bei der Kommunikation mit dem Finanzamt oder mit der Krankenversicherung, wenn die Frauen überhaupt krankenversichert sind. Oder unterstützt bei der Gesundheitsversorgung, indem man guckt, wo sie sich hinwenden können. Und natürlich auch bei der Aufklärung zum Prostituiertenschutzgesetz.
Info – So sieht die aktuelle Gesetzeslage in Deutschland aus:
Bis Prostitution in 2002 mit dem In-Kraft-Treten des Prostitutionsgesetzes umfassend legalisiert wurde, galt sie in Deutschland als sittenwidrig. Das neue Gesetz sollte Personen in der Prostitution mitunter den Zugang zu Krankenversicherung ermöglichen und Lohn einklagbar machen. Außerdem müssen Personen in der Sexarbeit ihre Einnahmen demnach versteuern.
Weiter gilt seit 2017 das Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG) in Deutschland, nach den Prostitutionsstätten wie Bordelle erlaubnispflichtig sind. Voraussetzungen für die Erteilung einer solchen Erlaubnis ist unter anderem, dass der Ort über ein „sachgerechtes Notrufsystem“ verfügt und Räume, in denen sexuelle Dienstleistungen stattfinden, nicht gleichzeitig zum Wohnen oder Schlafen genutzt werden. Das Gesetz regelt außerdem die Kondompflicht und verbietet die Werbung für ausgewählt Praktiken wie Sex mit Schwangeren. Alle Personen in der Prostitution sind aktuell dazu verpflichtet, sich als solche anzumelden und eine behördlich ausgestellte Anmeldebescheinigung mit Lichtbild immer dann bei sich zu tragen, wenn sie die angemeldete Tätigkeit ausüben. Diese Bescheinigung muss laut ProstSchG abhängig vom Alter der Person entweder jährlich oder alle zwei Jahre verlängert werden. Dazu ist unter anderem der Nachweis erforderlich, dass die betroffene Person sich regelmäßigen Gesundheitsberatungen unterzogen hat.
Tatsächlich angemeldet waren zum Ende des Jahres 2023 laut dem Statistischen Bundesamt rund 30.600 Prostituierte. Schätzungen zur Dunkelziffer aus den vergangenen zehn Jahren schwanken stark und reichen von 90.000 bis hin zu 800.000 Personen, die in Deutschland der Prostitution nachgehen.
Habt ihr Frauen beim Ausstieg aus der Prostitution begleitet?
Ja, das auch. Dabei, muss ich sagen, konnten wir nur ein bisschen helfen, weil alles, was wirklich geholfen hätte, wie beispielsweise eine Ausstiegswohnung, eine konkrete Hilfe beim Wohnen oder ein Überbrückungsgeld, gibt es so nicht.
Wir haben der Politik immer gesagt, dass es das ist, was die betroffenen Frauen erstmal brauchen. Wenn man aussteigt, fängt man nämlich bei null an: kein soziales Umfeld mehr, keine Wohnung mehr – das ist, was daran am schwierigsten ist.
Dass man Ausstiegsangebote schafft, ist auch eine der Säulen im nordischen Modell. Was hältst du davon als Perspektive für die Gesetzgebung in Deutschland?
Ich finde, man sollte das nordische Modell nehmen und ein neues Modell für Deutschland daraus machen. Wir können das, was in Schweden funktioniert, nicht einfach auf Deutschland übertragen, weil Deutschland viel konservativer und kapitalistischer aufgestellt ist. Wir haben hier nicht die sozialen Systeme, auf die Schweden immer noch zurückgreifen kann.
Schweden hat erst jetzt rechtere Regierungen und deswegen sind die Sexarbeiterinnen auch dort nun illegalisiert in dem Sinne, dass sie keinen Aufenthaltstitel haben und mehr von Abschiebung bedroht sind. Das passiert hier auch. Egal, ob wir die aktuelle Gesetzeslage behalten oder für die Kriminalisierung von Freiern entschieden wird.
Ich würde sagen, jetzt sind die Strukturen, die beim Ausstieg helfen, noch nicht da. Und wenn jetzt die Gesetzesänderung kommt, weiß ich nicht, ob insbesondere prekarisierte Frauen gut aufgefangen werden könnten. Ist aber immer eine Spekulation.
Info: Was ist das „Nordische Modell“?
Das Nordische Modell oder auch „Gleichstellungsmodell“ zur Regelung von Prostitution wurde 1999 in Schweden eingeführt. Mittlerweile gilt es in einer Handvoll weiterer Staaten, zum Beispiel Kanada und Island, wurde aber in allen etwas anders realisiert.
Grundlegend besteht das Modell aus vier „Säulen“:
- Entkriminalisierung von den Menschen, die sexuelle Dienstleistungen, zum Beispiel Prostitution, anbieten
- Kriminalisierung der Käufer und Profiteure von Sexarbeit (Freier, Zuhälter, Bordellbetreibende); hieraus leitet sich auch der Begriff des „Sexkaufverbots“ ab.
- Umfassender Zugang zu Schutz und Ausstiegsangeboten
- Initiativen für Prävention und Aufklärung
2014 beschloss das EU-Parlament eine nicht-bindende Resolution, in der es den EU-Mitgliedstaaten empfiehlt, den Kauf von sexuellen Dienstleistungen entsprechend dem Nordischen Modell zu bestrafen und hat diese Positionierung im Jahr 2023 noch einmal bekräftigt.
Was spricht denn Ihrer Meinung nach für das nordische Modell?
Ich finde, mit der aktuellen Gesetzeslage sind Frauen überhaupt nicht geschützt und werden auch überhaupt nicht unterstützt. Was sich an Schweden gezeigt hat, ist, dass der soziale Wert in der Gesellschaft sich verändert hat, dass Sex zu kaufen nicht in Ordnung ist. Man sollte auch gesamtgesellschaftlich darauf schauen, ob man es in Ordnung findet, dass Männer einen Körper kaufen können. Das, finde ich, muss man eben anders regeln – und das geht eben nicht, indem Sexarbeit, so wie wir es jetzt sehen, legal bleibt.
Haben Sie eine gefestigte Meinung zum Thema Prostitution?
Ich habe die feste Meinung, dass Freier Täter sind. Frauen in der Sexarbeit haben oft größere existenziellere Ängste, sodass die Prostitution aus ihrer Sicht als das kleinere Übel bewertet wird. Diese Frauen wollen sich dann nicht als Opfer sehen, sondern als Kämpferinnen: weil sie sich so durch ihr Leben geschlagen haben, weil sie aus einem anderen Land allein hergekommen sind, und so weiter. Das macht es für mich schwer, eine gute Lösung für alle Frauen zu finden.
Insgesamt sind das für mich eher linke Kämpfe. Es geht darum, Armut zu bekämpfen, gegen Rassismus anzukämpfen, gegen Sexismus – also für ein universelles Menschenbild. Für mich ist Prostitution ein Symptom von Kapitalismus und Patriarchat.
Wie verhärtet ist die Diskussion um Prostitution innerhalb „der feministischen Bewegung“?
So wie bei vielen linken Themen blockieren sich auch die verschiedenen feministischen Strömungen gegenseitig sehr. Ich glaube, dass zu viel über das Internet diskutiert wird und sich vieles dadurch verschärft.
Aber ich habe das Gefühl, diese Debatte um Prostitution ist trotzdem nicht die gleiche Debatte wie vor fünf Jahren. Es gab lange Zeit viele Leute, die nicht so genau wussten, wie sie sich dazu positionieren und auch sehr viel Angst davor hatten, gerade gegen dieses Argument mit der vermeintlichen Selbstbestimmung zu argumentieren. Aber ich glaube, langsam wird vielen Leuten wirklich klar: Was da passiert, ist sehr prekär, und das kann man eigentlich so nicht stehen lassen. Jetzt langsam könnten wir die Diskussion mal wieder wirklich aufmachen.
Was bräuchte es, um eine konstruktive Lösung aus feministischer Perspektive zu erarbeiten?
Es braucht wieder eine geschlossene feministische Haltung dazu, was wir wollen und brauchen für die Frauen, die in der Sexarbeit sind. Klar ist, dass meistens Frauen in der Sexarbeit sind, weil sie da mehr Geld verdienen oder überhaupt erst Geld verdienen können und sonst perspektivlos sind. Man muss vielleicht schrittweise sehen, wie man das langfristig verändern kann.
Du bist aktuell sehr präsent auf Instagram, unter anderem mit den verschiedenen Podcast-Formaten von Studio Rot. Wie ist dort die Resonanz?
Also ich habe mit dem Podcast „Das gute Leben mit Lensi und Ole“ zum Beispiel gerade eine Folge zu Prostitution gemacht. Erstmal mit der Leitfrage: Würde es in einem guten Leben überhaupt Prostitution geben? Wir sind dazu gekommen, dass wir sagen: nein. Einerseits würden Männer das nicht nachfragen und Frauen hätten die ökonomischen Nöte gar nicht, das anzubieten. Da gab es aber auf jeden Fall schwierige Kommentare, aber bei der Folge ging das allgemein gut klar, weil wir sehr gut für unseren Standpunkt argumentiert haben.
Als ihr aber zum Beispiel eure Episode von „Das Ding ist…“ zum sogenannten Daddy-Kink bei Instagram beworben habt, habt ihr entschieden, die Kommentarfunktion abzustellen, richtig?
Bei diesem Daddy-Reel ist das nochmal ein etwas anderes Thema gewesen. Da ging es um einen Kink und ich habe das Gefühl, wenn das so etwas Privates verletzt, gerade diese sexuellen Bedürfnisse von Menschen, die wir gar nicht mehr antasten und auch nicht kritisieren dürfen, stoße ich da viel mehr auf Hass oder erhalte Anfeindungen.
Die Leute wollten gar nicht diesen Impuls gesetzt bekommen, nur mal zu hinterfragen, warum sie das vielleicht machen. Warum vielleicht Frauen auch ihre Unterwerfung so fetischisieren und das irgendwie cool finden, ihren Freund im Bett Daddy zu nennen.
Vor kurzem haben Sie ein Buch angekündigt, das im März erscheinen soll. Worum geht es?
Das Buch heißt, so wie Männer von sich sagen würden: „Ich als Feminist… – 70 Dinge, die wir an Männern nicht mehr ertragen“. Das wird sehr satirisch. Also ich mache verschiedene Themen auf. Es geht unter anderem darum, scherzhaft zu sagen: „Ey, wenn ein Typ sich Feminist nennt, aber trotzdem der größte Proll ist, dann hat er doch noch gar nichts reflektiert.“ Es gehört mehr dazu. Wenn Männer zum Beispiel sagen: „Ich bin einfach kinky“, das aber nicht hinterfragen. Genauso stellt sich die Frage, warum sie überhaupt Pornos gucken. Das sind solche Dinge.
Dazwischen gibt es immer mal sehr radikale Impulse, bei denen man sich als Frau vielleicht auch an die eigene Nase fassen und sagen kann: Okay, warum mache ich denn hier dieses und jenes eigentlich überhaupt mit?
Welche Lösungsansätze geben Sie diesen Frauen mit auf den Weg?
Wir können als Frauen viel mehr geschlossen dahinterstehen, zu sagen, was wir nicht mehr dulden wollen. Ich möchte aufmachen, dass wir gemeinsam sagen können: Nee, die Typen daten wir jetzt nicht mehr, weil uns das so nicht reicht. Wir müssen zusammen alle Männer bestreiken, die uns nicht gerecht werden, und mit denen Schluss machen. Damit helfen wir auch allen unseren Schwestern. Das ist auch notwendig, wenn wir uns die Statistiken zur steigenden Gewalt an Frauen und zu Femiziden angucken. Es soll aber trotzdem ein leichtes Buch werden und es wird auch eine Ode an die Softboys geben.
Info: „Ich als Feminist … – 70 Dinge, die wir bei Männern nicht mehr ertragen“ erscheint am 27. März 2025 beim Gutkind-Verlag und kostet 15 Euro.
Foto: Jean-Philippe Kindler


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