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  • Leiden schafft Leidenschaft

    Geniekult und Glorifizierung psychischer Erkrankungen in der Kunst sind so allgegenwärtig wie veraltet - findet Kolumnist*in Jo.

    Das leere Blatt Papier klemmt in der Schreibmaschine. Sein wohl wertvollster Besitz in der nahezu leeren Wohnung, in der sonst nur eine Matratze auf dem Boden liegt. Er führt die Zigarette zum Mund, nimmt einen Zug und schnippt die glühende Asche in den bereits überquellenden Porzellanbecher neben sich. Es wird wohl wieder eine jener Nächte werden, in der er kaum ein Wort zu Papier bringt. Die grelle, weiße Leere des Papiers macht ihn wahnsinnig. Er braucht die Einsamkeit der Nacht, um sich abseits aller anderen Menschen seinem kreativen Schaffen widmen zu können. Mit einer routinierten Bewegung greift er nach der Flasche und sofort schlägt ihm schon der beißende Alkoholgeruch entgegen. Billig, aber effektiv im Kampf mit sich selbst. Die zahllosen leeren Flaschen in seinem beengten Zimmer zeugen von einem geübten Ritual. Plötzlich durchzuckt ihn ein Geistesblitz und er weiß: Dies wird sein Durchbruch!

    Das Klischee des depressiven Autors, der zurückgezogen und mit der Alkoholsucht ringend literarische Meisterwerke erschafft, prägt das seit dem 20.Jahrhundert vorherrschende Bild eines Schriftstellers. Dazu beigetragen haben besonders Edgar Allan Poe, Ernest Hemingway sowie Charles Bukowski. Sie alle hatten mit psychischen Erkrankungen und Süchten zu kämpfen. Meist sind sie daran zerbrochen. Ihre Kunst jedoch hat Legendenstatus erlangt. Im Mittelpunkt der heutigen Rezeption stehen häufig die psychischen Erkrankungen, denen eine gar magische Kraft auf das künstlerische Schaffen zugesprochen wird. Sie werden als vermeintliche Grundlage des herausragenden Erfolgs identifiziert.

    Doch kann das stimmen? Befähigt uns unsere psychische Erkrankung zu einzigartiger Kreativität?

    Das Bild erzählt eine Aufstiegsgeschichte. Die des mittellosen, leidgeplagten Künstlers, der sich fest an seine Leidenschaft klammert und entgegen allen Widrigkeiten und gesellschaftlichen Konventionen der Zeit zum Star wird. Sie verspricht allen Hobbykünstlern, dass sie es auch schaffen können, wenn sie nur fest daran glauben. Das Vertrauen in das eigene, göttliche Talent spendet Trost, wenn das „Genie“ von Kritikern verkannt wird. Anstatt das Manuskript zu überarbeiten, wartet man, dass das Publikum von selbst zu seinem Meisterwerk findet. Und selbst wenn man zu Lebzeiten nichts von seinem Erfolg hat, kann man in der Hoffnung sterben, zu einer jener tragischen Gestalten zu zählen, die erst nach ihrem Tod zu Ruhm gelangten. Das verkannte Genie. Das kreative Werk, das seinen irdischen Schöpfer überdauert und die Welt nach Jahrzehnten immer noch begeistert.

    Echte, glaubhaft transportierte Gefühle sind das, was die Konsumenten an der Kunst fasziniert. Offen ausgetragene Konflikte mit sich selbst, das In-Szene-Setzen der eigenen Imperfektion lassen die Idole lebensnaher wirken als jeden übermenschlich glattgeleckten Popstar. Die Bodenständigkeit macht sympathischer, lädt zur Identifikation mit dem Star ein. Sie macht die Kunst greifbarer, persönlicher für jene, die auch mit psychischen Problemen zu kämpfen haben. Gleichzeitig macht es aber ernsthafte, chronische und in vielen Fällen tödlich verlaufende Erkrankungen zu einem Lebensgefühl. Ein bisschen Edgyness, ein bisschen Melancholie, ein bisschen Rockstar. Das tatsächliche Leiden hinter der Fassade wird ausgeblendet.

    Letztlich ist es ein Image, ohne das die Kunst vielleicht weitaus weniger Beachtung finden würde. Selbstvermarktung spielt eine wichtige Rolle im immer weiter eskalierenden Kampf um Aufmerksamkeit. Die bekommt man nur, wenn man sich als Marke und Genie inszeniert. Du musst herausstechen, dich von der ständig größer werdenden Konkurrenz abheben. Die Kunst allein reicht nicht aus. In einer Welt voller Rebellen und Genies, ist das Genie nur eines von vielen. Der Kunstschaffende wird selbst zur Kunstfigur und somit zu einer Kopie all jener, die sich so sehr durch den eigenen Individualismus zu profilieren versuchen. Gegen den Trend sein, liegt nun mal voll im Trend.

    Als ich vor einigen Jahren eine besonders schmerzhafte Trennung durchmachte, sagte mein Therapeut zu mir: „Manchmal muss ein Künstler schwierige Zeiten durchmachen, um sie glaubhaft in seine Kunst einfließen zu lassen. Die besten Werke von Stephen King entstanden nicht, als es ihm besonders gut ging. Und mittlerweile scheint es ihm deutlich besser zu gehen. Oder hast du ein gutes aktuelles Buch von ihm gelesen?“

    Natürlich meinte er damit nicht, dass ich mich selbstzerstörerischem Verhalten hingeben soll, um bessere Geschichten zu schreiben und ein „richtiger“ Autor zu werden. Er meinte, dass ich den Schmerz, den ich erlebe, in eine positive Richtung leiten soll. Ich sollte darüber schreiben. Meine Gedanken und Gefühle in Worte fassen, um damit abschließen zu können. Kunst ist ein Kanal zum Ausdruck der persönlichen Gefühle des Urhebers. Wenn also ein Künstler mit psychischen Problemen zu kämpfen hat, fließen diese oft in seine Werke mit ein und bilden so natürlich eine Inspirationsquelle für die eigene kreative Arbeit.

    Nicht Selbstzerstörung, sondern Heilung.

     

    Foto: privat

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