Gefangen in sich selbst — Zwischen Vergangenheit und Neuanfang
Es existieren Orte, an denen die Grenze zwischen Realität und Erinnerung, Mythos und Mensch, Land und Meer verschwimmt. „The Outrun“ wurde als bester britischer Film für den BAFTA Award nominiert.
Die deutsche Filmregisseurin Nora Fingscheidt liefert ein bewegendes Drama über den Kampf der Sucht, basierend auf dem autobiografischen Bestseller von Amy Liptrot, die nach jahrelanger Alkohol- und Drogenabhängigkeit in ihre Heimat zurückgekehrt ist, um ihren Entzug fortzusetzen. Die Landschaft der Insel wird zum Spiegelbild der Seele einer jungen Frau. Die innerliche Zerrissenheit zwischen der Vergangenheit, ihrer Alkoholsucht und dem Kampf um einen Neuanfang wüten wie das Meer, in unberechenbaren Wellen und Strömungen.
In Orkney heißt es: Wenn Menschen ertrinken, werden sie zu Seehunden. Wir nennen sie Selkies. Wenn die Flut am höchsten steht, schlüpfen sie für die Nacht aus ihrer Seehundhaut und kommen als wunderschöne Menschen an Land. Und sie tanzen miteinander. Nackt. Im Mondlicht. Bei Sonnenaufgang kehren die Selkies ins Meer zurück. Es sei denn, jemand hat sie gesehen. Dann bleiben sie in ihrer menschlichen Gestalt gefangen und können nicht mehr zurück. Doch an Land werden sie immer unglücklich sein. Denn sie gehören ins Meer.
Mit dieser mythischen Sage wirft Rona, gespielt von der oscarnominierten Schauspielerin Saoirse Ronan das Publikum unmittelbar ins Geschehen. Zu sehen ist ein kleines Mädchen an der rauschenden See. Die Szene ist der Anfang eines dynamischen Wechsels aus zersplitterten Erinnerungen und Fantasien der jungen Frau, die sich im gesamten Film fortsetzen. Saoirse Ronan spielt die Protagonistin mit einer durchdringenden Tiefe. Nach Jahren des Alkoholmissbrauchs und einem daraus folgenden Zusammenbruch kehrt sie auf ihre schottische Heimatinsel zurück. Zunächst wirkt es wie ein Davonlaufen vor ihrer eigenen Verletzlichkeit. Doch die Reise erweist sich als ein Zusammensetzen von Bruchstücken aus ihrer Kindheit und ihren Alkoholexzessen, die zu einer Konfrontation mit alten Wunden und letztendlich mit sich selbst führen. Der Film erzählt keine Geschichte, er zeigt Erinnerungen. Erinnerungen, die in den Wellen von Orkney herangespült werden und die Zuschauer*innen in das Leben einer Frau eintauchen lässt, die als Überlebenschance nur noch die Flucht in die Einsamkeit sieht.
Sie fliegt auf den Gehweg, benommen vom Alkohol. Rausgeschmissen. Nicht nur rausgeschmissen aus der Bar. Sondern aus ihrem Leben. Aus der Gesellschaft. Dieser Abend legt sich wie ein Schleier über den gesamten Film. Denn er ist ein Echo in Ronas Erinnerungen. Ein Ausschnitt einer Nacht, die in Rausch, Scham und Kontrollverlust versinkt. Gleichzeitig wird diese Nacht zum Kipppunkt. Die einzige Chance, um der Sucht zu entkommen sind ein Entzug und der Weg in ihre Kindheit, zurück zum Anfang. Da wo alles begann und vielleicht auch alles zerbrach.
Die Inseln sind keine Idylle. Sie konfrontieren, erinnern und entblößen. In den Naturgewalten von Orkney schimmert in jeder Welle, in jedem Sturm und mit jedem Blick auf die gewaltigen Klippen ein Stück von verlorenen Nächten. Von Nächten, in denen Rona berauscht war. Von denen sie nichts mehr wusste. Flashbacks, in denen London und Orkney nebeneinander existieren und sich gegenseitig überschwemmen. Dabei werden nicht nur die Momente des Rausches beleuchtet, sondern auch die Beziehung mit ihrem ehemaligen Partner. Diese wirkt sehr intensiv und von vielen Gefühlen geprägt, die in einem ständigen Konflikt mit Ronas Alkoholsucht stehen. Der Film zeigt keine dramatische Trennung, sondern ein langsames Entgleiten. In ihren Tagträumen ist er immer noch da. Diese Liebe war echt, doch hielt ihrer Selbstzerstörung nicht stand.
Nicht nur die Verluste, die mit einer Sucht einhergehen werden gezeigt, sondern auch neue Annäherungen. Bewegungen in eine Richtung der Versöhnung – vor allem mit ihrer Familie. Die Einblicke in Ronas Vergangenheit zeigen den Zuschauer*innen auch die frühe Auseinandersetzung mit der bipolaren Störung ihres Vaters und die daraus resultierende Trennung ihrer Eltern. Wie ein schleichender Prozess, der sich wieder in der Gleichgültigkeit der Natur verfängt. Die zwar nichts an ihrem Leben ändern wird, aber sie dazu bringt, nicht nur die richtigen Antworten zu suchen, sondern auch die richtigen Fragen zu stellen.
„The Outrun“ liefert keine fließenden Übergänge des Zeitgeschehens, doch ermöglicht die Regisseurin dem Publikum, eine Orientierung an der Veränderung von Ronas Haarfarbe. Ein rausgewaschenes Pink, was vor allem die Zeit in London hervorhebt, bis hin zu dem herausgewachsenen Blau, welches den Weg der Abstinenz begleitet. Doch nicht nur die Einordnung der Zeitabschnitte wird klarer, sondern auch die Erkenntnis, dass Veränderung möglich ist, auch wenn sie langsam voranschreitet.
Der Kampf der Sucht basiert nicht nur auf den realen Erlebnissen der Hauptfigur, sondern ist auch mit den alten Sagen der Orkney-Inseln verwachsen, die den Film auf eine gespenstische Weise durchwandern – eine Legende, in der ein Mädchen auf einer der Inseln verschwunden ist und nie zurückkam, lässt den Zuschauer*innen Raum für eigene Interpretationen. Vielleicht ist Rona das Mädchen. Auf der Suche nach Halt, nach Zugehörigkeit.
In Ronas Gedanken entsteht ein Kontrast zwischen Rausch und Klarheit, zwischen Leben und dem Überleben. Die Regisseurin Nora Fingscheidt liefert nicht nur einen intensiven Einblick in die Realität der jungen Frau. Sie zeigt die Alkoholsucht auf eine Weise, die für viele Menschen unerwartet, aber zutiefst authentisch ist. Die Perspektive entspricht nicht den gängigen Klischees, ist aber wahrscheinlich weit verbreiteter, als man denkt.
Mit Sicherheit wird der Film zur Selbstreflexion anregen und hoffentlich viele Zuschauer*innen dazu bewegen, ihre Vorstellung von Sucht zu hinterfragen. Mich jedenfalls hat der Film emotional tief bewegt. Und ich bin davon überzeugt, dass diese Geschichte auch viele andere in ihren Bann ziehen und ihnen zeigen wird, wie vielfältig und real eine Alkoholsucht sein kann.
„The Outrun“ von Nora Fingscheidt hat eine Spielzeit von 118 Minuten und lief seit Dezember letzten Jahres im Kino. Verfügbar ist er mittlerweile auch auf DVD und im Streaming z. B. bei Amazon Prime.
Titelbild: Studio Canal


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